Jeder und jede ein Glückspilz, wenn er/sie einen Mentor oder eine Mentorin hat. Was in den USA bereits seit langem gang und gäbe ist, dass sich nämlich Nachwuchskräfte schon während ihres Studiums eine/n Mentor:in suchen, setzt sich diese Art der Nachwuchsförderung bei uns erst sehr langsam durch.

Mentoring als Instrument der Nachwuchsförderung

In den USA, so entnehme ich einschlägiger Literatur, ist es üblich, sich aktiv Mentor:innen zu suchen. Student:innen oder junge Berufseinsteiger:innen bitten entweder Führungskräfte in der eigenen Firma oder auch unternehmensfremde Personen, ihr Mentor oder ihre Mentorin zu sein. Für erfahrene Führungskräfte scheint es Teil ihres Job-Profils zu sein, ihre Erfahrungen an junge Leute weiterzugeben. Dabei geht es im Allgemeinen weit weniger um Fachkenntnisse als um organisatorisches Wissen, um persönliche Karrierestrategien und um berufliche Beziehungen.

Bei uns gibt es nur vereinzelt Mentoringprogramme. An Universitäten ist es am ehesten üblich, dass Studienanfänger:innen ein älteres Semester zugeteilt bekommt, das sich ein bisschen um sie kümmert. Auch Mentoring für Absolvent:innen, die sich in einem frühen Karrierestadium befinden, wird vereinzelt, von Universitäten organisiert.

Führungskräfte haben immer Vorbildwirkung

Führungskräfte sind auch dann Vorbilder, wenn sie sich nicht aktiv als Mentorinnen, sprich: als aktive Berater:innen und Begleiter:innen ihrer jungen Mitarbeiter:innen, verstehen. Ob man es will oder nicht, ist man als Vorgesetzte:r immer eine Figur, an der sich Mitarbeiter:innen orientieren. Arbeitet man als weibliche Führungskraft in einer Branche, wo der Frauenanteil in den Führungsetagen gering ist, reicht der Einfluss, den man auf junge Frauen hat, meist sogar über das eigene Unternehmen hinaus, denn dann steht man auch für junge Mitarbeiterinnen anderer Unternehmen im Fokus des Interesses.

Wir alle brauchen Vorbilder

Von der Stunde unserer Geburt an orientieren wir uns, ohne es groß zu bemerken, an Vorbildern. Zuerst zeigen uns Eltern und andere Familienmitglieder, wo es lang geht. Später beeinflussen uns Lehrer:innen oder Trainer:innen und ganz allgemein Leute, die erfahrener sind als wir selbst. In der Schule blickt man zu den Schüler:innen höherer Klassen auf, und ganz ähnlich ist es in einem Lehrverhältnis oder an der Universität. Die Bedeutung von Role Models zeigt sich generell am überaus großen Interesse, das wir alle an berühmten Menschen aus Business, Sport, Mode oder Bühne haben. Heutzutage ist der Beruf der Influencerin (gibt es auch Influencer?), die ja auch eine Vorbildfunktion ausüben, ein lukrativer Geschäftszweig. Die Ratgeberliteratur, in der sich Menschen Rat und Orientierung suchen, boomt seit Jahrzehnten.

Ideales Mentoring

Die Bedeutung von Vorbildern, die einem im beruflichen Alltag Tag für Tag vorleben, wie „es geht“, oder manchmal auch, wie man es besser nicht macht, ist kaum hoch genug zu schätzen. Nicht einmal gezielte Beratung durch eine außenstehende Person ist so hilfreich wie die Gelegenheit, eine Führungskraft in ihrem Alltagsverhalten im Job beobachten zu können. Der Idealfall tritt ein, wenn das Vorbild zum Mentor/zur Mentorin wird und seine/ihre Überlegungen mit der Nachwuchskraft teilt, Motive, Kalküle und Strategien erörtert, und so der Nachwuchskraft Einblicke aus der Perspektive einer Führungskraft vermittelt und ihr in ihrer Karriere weiterhilft.

Wie machen es erfolgreiche Frauen?

Auch ich habe, wie könnte es anders sein, alle erfolgreichen Frauen in meiner Umgebung stets genau beobachtet. Ich betrachtete ihren Umgang mit Geschäftspartner:innen, Kundschaft und Mitarbeiter:innen, ihre Sprechweise, ihre Werthaltungen, ihre Art zu argumentieren, ihre Standfestigkeit bei Verhandlungen, ihre Durchsetzungskraft, ihr Umgang mit Niederlagen, ihr Machtbewusstsein. Natürlich sind auch Äußerlichkeiten immens wichtig, insbesondere bei Frauen, wie etwa der Kleidungsstil, die Frisur, die Art sich zu schminken. Und nicht zuletzt neigt man dazu, Frauen, die potenzielle Vorbilder sind, überhaupt in ihrer Ganzheitlichkeit wahrzunehmen und schaut sich beispielsweise an, wie sie ihre Work-Life-Balance auf die Reihe bringen, wie sie gesundheitlich auf sich achten, ob sie sich umweltbewusst verhalten, usw.

Was würde X oder Y an meiner Stelle tun?

Ich bin schon sehr lange im Geschäft, und dennoch habe ich bis heute, insbesondere in heiklen Situationen, zwei Menschen – in meinem Fall einen Mann und eine Frau – vor Augen, an denen ich mich, reflexartig „anhalte“. Was würde X bzw. Y an meiner Stelle tun? Handeln oder abwarten? Durchgreifen oder die Fingerspitzen walten lassen? Würden sie die Sache mit jemandem besprechen, und wenn ja, mit wem? Welche Allianzen würden sie schmieden? Wie würden sie eine heikle Angelegenheit der Öffentlichkeit präsentieren? Fragen wie diese schießen mir durch den Kopf, wenn ich vor einem Problem stehe. Die Vorstellung, wie sich das Vorbild in der Situation verhalten hätte, gibt Kraft und Sicherheit.

Der Rückgriff auf bewährte Vorbilder erinnert auch immer wieder daran, dass auch sie schwierige Situationen zu meistern hatten.

Männer haben größere Auswahl an Vorbildern

Was Vorbilder betrifft, sind Männer klar im Vorteil, weil sie eine große Auswahl an Personen aus Gegenwart und Vergangenheit haben, an denen sie sich orientieren können. Sie haben auch im beruflichen Alltag Männer um sich, von denen sie sich leiten lassen, und wachsen ganz natürlich in ihre Rolle hinein. Für Frauen ist dies ungleich schwieriger, weil es viel weniger weibliche Vorbilder gibt. Natürlich können und sollen sich Frauen auch männliche Führungskräfte zum Vorbild nehmen. Als Role Model taugen Männer für Frauen jedoch nur bedingt. Als Identifikationsfiguren für Frauen eignen sich Frauen naturgemäß besser.

Vorbilder im Herkunftsmilieu helfen bei der Karriere

Manche Nachwuchskräfte, die an der Schwelle zur Chefetage stehen, nehmen in Bezug auf Vorbilder ihren Startvorteil bereits aus Kindertagen mit, weil sie mit Eltern aufgewachsen sind, die höhere Positionen bekleideten, und sich in deren Bekanntenkreis erfolgreiche Unternehmer:innen, hohe Beamt:innen oder Wissenschaftler:innen befanden, mit denen man von klein auf zu tun hatte. Kinder erfolgreicher und karrierebewusster Eltern können mühelos in das Milieu hineinwachsen, in dem sie später selbst reüssieren wollen. Kinder, die ihren Vater als Sprecher auf großen Podien erlebt haben, werden mit Sicherheit auch ein anderes, der Karriere eher förderliches Selbstbild entwickeln als solche, deren Eltern als stille Zuhörer in der letzten Reihe standen.

Alle anderen, die Erfolgsstrategien und Karrierebewusstsein nicht quasi mit der Muttermilch eingesogen haben und den sozialen Aufstieg im Alleingang schaffen müssen, befinden sich zumindest am Anfang ihrer Berufslaufbahn auf unbekanntem Terrain. Umso dringender brauchen sie eine/n Mentor:in oder wenigstens ein Vorbild, an dem sie sich orientieren können.

Wenn man keine Vorbilder hat

Hat man nämlich keine Vorbilder, fehlt einem nicht nur die Sicherheit im Alltagsgeschäft. Man tut sich schwerer, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Man läuft aber auch Gefahr, die Grenzen des Möglichen zu verkennen und sich zu unter- oder zu überschätzen. Jene, die sich dauernd fragen, ob sie eh gut genug für die Position sind, verlangen vielleicht ein zu geringes Gehalt. Diejenigen, die ebenfalls aus Unkenntnis des Milieus keine realistische Sicht auf die Dinge haben, streben vielleicht nach Positionen, die sie (noch) nicht auszufüllen können und bringen sich damit ebenfalls um Chancen.

So geht Mentoring

Ich persönlich hatte schon in jungen Jahren das Glück, im Windschatten einer sehr erfolgreichen Führungspersönlichkeit zu arbeiten, die ihre Erfahrungen großzügig mit mir teilte und mich sowohl gefordert als auch gefördert hat. Sie schickte mich an ihrer Stelle zu Sitzungen und Konferenzen und hegte, im Gegensatz zu mir selbst, nicht die geringsten Zweifel, dass ich der Aufgabe gewachsen war und meine Sache gut machen würde. Sie hat meine Arbeit kritisch gewürdigt und gelobt und mir mit der Zeit die Sicherheit vermittelt, die man braucht, wenn man ein paar Schritte weitergehen möchte. Sie hat mich, die „kleine“ Mitarbeiterin, immer wieder an ihre Seite genommen, ihre Gedanken mit mir geteilt und nach meiner Meinung zu dieser und jener Angelegenheit gefragt, und ist gelegentlich tatsächlich meinem Rat gefolgt. Ich habe von dieser Person, die ich bis heute bewundere, viel gelernt, und habe mich später immer, wenn mich Selbstzweifel befielen, mit dem Argument beruhigt: „Du warst gut genug für X., also reicht es für das hier schon lange.“ Die Persönlichkeit, von der ich hier spreche, ist übrigens ein Mann.

Betätigt man sich selbst als Mentor:in, dann hat man oft an Mentees, die sich erfolgreich entwickeln, die helle Freude. Es kann aber auch vorkommen, dass sich Mentees überfordert fühlen, dass sie die in ihn/sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, oder dass sie sich von ihren Förderern ohne Dankbarkeit abwenden, sobald sie ihr persönliches Ziel erreicht haben. Darüber sollte man als Mentor:in souverän hinwegsehen, denn solche Erfahrungen gehören einfach dazu.

Mentoring sollte eine anerkannte Führungsaufgabe sein.

Mentoring sollte auch im Sinne von Unternehmen und Institutionen eine anerkannte Führungsaufgabe sein, gilt es doch, gut qualifizierte Nachwuchskräfte als künftige Führungskräfte aufzubauen.