In unserer Gesellschaft wird, geschäftlich wie privat, viel zu wenig gefragt, dafür aber viel zu viel vorausgesetzt, behauptet, angeordnet.
Wer Fragen stellt, gilt als unsicher und schwach.
Gilt dies wirklich? Und gilt es womöglich in besonderem Maße für eine Führungskraft? Ist eine Führungskraft nicht eigentlich dazu da zu wissen, wo es lang geht? Wieso sollte sie Mitarbeiter:innen um ihre Expertise oder ihre Meinung fragen? Gibt der Chef/die Chefin durch Fragen leichtfertig Macht ab?
Die Mentorin berichtet:
Ich stehe einigen Abteilungen vor, in denen Leute arbeiten, die auf ihren Gebieten ausgewiesene und erfahrene Fachexpert:innen sind. Ich selbst verstehe viel von wirtschaftlichen Belangen, von Personalpolitik und von Unternehmensführung, habe jedoch kaum Bezug zu technischen Fragen. Ebenso wenig kann ich mit juristischem Spezialwissen aufwarten. Da ich neu im Unternehmen bin, sind mir auch die Abläufe und die Usancen im Kundenverkehr noch nicht vertraut.
Muss/kann eine Führungskraft alles wissen?
Die Antwort auf diese rhetorische Frage liegt auf der Hand. Sie lautet natürlich: Nein.
Ich brauche also auch nicht zu tun als ob, und was läge daher näher als im Anlassfall die eigenen Fachleute um ihre Expertise zu bitten? Zu erkunden, wie dies oder jenes gehandhabt wird und warum? Was für diese Vorgangsweise spricht, was dagegen? Welche Lösung sie als Fachmann oder Fachfrau für ein bestimmtes Problem vorschlägt? Und so weiter.
Durch Fragen wird man klug – oder?
Ich habe einen Großteil meiner beruflichen Führungserfahrung im Forschungswesen erworben, wo Wissen und dessen freizügiger Austausch eine wichtige Rolle spielen. Lehrende, Forschende oder Berater:innen sind immer gerne bereit, ihr Wissen zu teilen. Umgekehrt ist in diesen Branchen jeder begierig, dazuzulernen. Fragen stellen ist das Um und Auf, und Information und Wissen sind die Währung, ohne die nichts geht.
Derart geprägt, gehe ich bis heute stets mit Neugier an Problemstellungen heran. Der Zugang, zunächst Informationen zu sammeln, zu analysieren und danach erst Schlussfolgerungen zu ziehen, bewährt sich in vielen Situationen auch außerhalb der Forschung. Und so stelle ich im neuen Unternehmen unbefangen Fragen und erwarte, dass sich die Mitarbeiter:innen geehrt fühlen und stolz sind, mit ihrer Fachexpertise zu glänzen.
Werden Mitarbeiter:innen tatsächlich gerne gefragt?
Meine Überraschung ist groß als ich mit meinen Fragen zuweilen ganz andere Reaktionen hervorrufe.
Eine Abteilungsleiterin stürmt mit hochrotem Kopf in mein Büro, nachdem ich sie gebeten habe, mir eine Sachlage, die sie mir am Telefon skizziert hatte, näher zu erläutern. Sie überschüttet mich mit einem Redeschwall zu ihrer “Verteidigung” und liefert mir gleich die Namen von ein paar möglichen “Schuldigen” mit dazu. Ich warte ab bis sie fertig ist und wiederhole ganz ruhig meine Frage, diesmal mit dem Zusatz, dass es eine sachliche Frage ist, auf die ich gerne eine Antwort hätte, nichts weiter, kein Vorwurf, keine Schuldzuweisung. Sie schluckt und bleibt erst einmal stumm.
Eine andere Mitarbeiterin steht neben mir, als sich ein Kunde beschwert, weil er meint, gegenüber einem anderen Kunden benachteiligt worden zu sein. Ich vermute einen sachlichen Grund für die augenscheinliche Ungleichbehandlung und wende mich an die Mitarbeiterin, eine technische Expertin, die für die Angelegenheit zuständig ist. Statt der sachlichen Begründung, dich ich erwarte, flappst sie mich – in Anwesenheit des Kunden – an: Na ja, wenn Sie es anschaffen, bekommt er es natürlich.
Die Beiden sind nicht die Einzigen, die so reagieren. Im ganzen Unternehmen scheinen manche Mitarbeiter:innen sogleich ihre innere Verteidigungsarmee zu aktivieren, wenn sie mit einer Frage konfrontiert werden.
Ich bekomme Gelegenheit zu beobachten, dass Mitarbeiter:innen auf Fehler, die zu verhindern gewesen wären, nicht hingewiesen haben, weil sie Angst hatten, sich die Finger zu verbrennen. Sie habe sich dreimal von ihrem unmittelbaren Vorgesetzten eine Abfuhr geholt, erzählt mir eine Mitarbeiterin, und seither halte sie lieber den Mund. Nun schrillen bei mir die Alarmglocken.
Fragen sind nicht gleich Fragen
Ich weiß, dass man Fragen als Machtinstrument einsetzen und so formulieren kann, dass sie als Anschuldigung, Drohung oder Herabwürdigung daherkommen. Vielleicht haben Mitarbeiter:innen in der Vergangenheit mit ihren Führungskräften schlechte Erfahrungen gemacht. Auf jeden Fall sind viele es offensichtlich nicht gewohnt, um ihre Meinung gefragt zu werden.
Ich bringe meine Beobachtungen bei der Abteilungsleitersitzung zur Sprache und erkläre meine Motive. Eine Frage, die von mir kommt, beinhaltet weder Kritik noch einen Angriff, sage ich. Eine Frage dient ausschließlich dazu, einen Sachverhalt zu klären. Wenn ich Kritik zu äußern habe, tue ich dies direkt, ohne Umweg über scheinheilige Fragen.
Ich muss diesen Sermon noch öfter wiederholen, denn so rasch sickert das nicht. Manche Mitarbeiter:innen erkennen jedoch bald ihre Chance und blühen geradezu auf. Andere bleiben noch länger misstrauisch.
Hat die Chefin keine Ahnung, dass sie uns fragen muss?
Und Dritte, so erfahre ich durch Zufall, raunen einander hinter meinem Rücken zu: Die hat ja überhaupt keine Ahnung! Wieso sonst fragt sie uns?
Nun bin ich ein wenig ratlos.
Trotzdem weitermachen, rät meine Frau Coach, mit der ich die Angelegenheit bespreche. Nichts ändert sich von einem Tag auf den anderen, am wenigsten Routinen und Kulturen in einem Kollektiv, wie es ein Unternehmen nun einmal ist.
Und sie gibt mir eine weitere wichtige Weisheit mit auf den Weg: Wenn Sie etwas tun, das in der Firma bisher unbekannt war und Ihnen als Schwäche ausgelegt werden könnte, wie zum Beispiel Nichtwissen zugeben, Fragen stellen, auf ein Privileg zu verzichten oder durch die Art des Umgangs an den hierarchischen Strukturen rütteln, dann erklären Sie sich. Sagen Sie immer dazu, dass Sie das ganz bewusst tun, und legen Sie ihre Motive offen.
Den eigenen (Führungs)Stil deklarieren
Ich konsultiere also weiter meine Mitarbeiter:innen, sage jetzt jedoch immer wieder dazu, dass es Teil meiner persönlichen Führungsphilosophie ist, Expert:innen mitreden zu lassen. “Ich frage Sie, weil Sie die Expertin auf dem Gebiet sind”, sage ich zum Beispiel. Ich betone, dass das Einbeziehen von Mitarbeiter:innen in einen Entscheidungsprozess kein Zeichen von Unwissenheit und Entscheidungsschwäche darstellt, sondern meiner Überzeugung entspringt, dass man zu besseren Lösungen kommt, wenn man auf die Meinung der Fachexpert:innen hört.
Die letzten Entscheidungen muss ja trotzdem ich als Führungskraft treffen, und manchmal tue ich das auch gegen den Rat der Fachexpert:innen. In solchen Fällen spreche ich es jedoch klar aus und liefere eine Begründung. Diese kann sachlich darlegbar sein, sie kann aber auch einem übergeordneten Unternehmensinteresse dienen, auf das ich nur hinweise. So oder so verdienen die Mitarbeiter:innen, die mich bei der Entscheidungsfindung unterstützen, eine Rückmeldung zu ihren Beiträgen.
Meine Vorgangsweise, die an der bisherigen Unternehmenskultur rüttelt, ist zuweilen recht anstrengend. Aber ich vertraue darauf, dass die Mitarbeiter:innen eines Tages meinen Respekt für ihre Erfahrung und ihr Expertenwissen zu schätzen wissen und daran wachsen werden, die einen früher, die anderen später.
Tipp der Mentorin:
Greift man mit seinem Führungsstil in die bisherige Unternehmenskultur ein, dann braucht es nicht nur wiederholt Erklärungen zu den eigenen Motiven, sondern auch viel Geduld und einen langen Atem.