Die Firma gibt es schon lange, ich selbst bin dort neu. Ich kann davon ausgehen, dass im Unternehmen bisher vieles gut funktioniert hat. Andererseits wird von einer Führungskraft erwartet, dass sie Präsenz zeigt, Signale setzt und (um)gestaltet.
Es stellt sich die Frage: Darf man als neue Chefin ein bisschen beobachten, bevor man neue Maßnahmen setzt, oder muss man sogleich etwas tun?
Die Mentorin berichtet:
Ich sitze an meinen Schreibtisch. Vor mir liegen die letzten Bilanzen des Unternehmens und ein Stapel von Sitzungsprotokollen. Ich vertiefe mich jeden Tag ein, zwei Stunden in diese Materialien um die Firma genauer kennenzulernen.
Darf man als Chef:in noch dazulernen?
Daneben tue ich etwas, von dem niemand erfährt: ich buche bei einer wirtschaftlichen Weiterbildungseinrichtung ein Spezialseminar über das Interpretieren von Bilanzen. Ich habe zwar ein Wirtschaftsstudium absolviert, und auch schon Führungspositionen innegehabt, hatte jedoch mit Bilanzen bisher nichts zu tun. Ich brauche mich nicht mit jeder Einzelheit auszukennen – dafür ist das Rechnungswesen da. Doch ein Grundverständnis dessen, was in der Bilanz steht, ist unerlässlich. Ich muss Details, die mir die Leitung des Rechnungswesens erklärt, einordnen können. Es ist keine Schande, auch in einer gehobenen Position noch etwas Grundlegendes dazu zu lernen.
Meinem Naturell und meiner Sozialisation als Forscherin entspräche es, mich erst einmal gründlich zu orientieren, zu erkunden, wie die Dinge laufen, zu beobachten, wie sich die realen Machtverhältnisse und die informellen Kommunikations- und Informationswege darstellen, und erst dann daran zu gehen, Prozesse oder Strukturen zu verändern.
Präsenz zeigen – doch mit Respekt
Irgendwie ahne ich aber, dass ich schon am Anfang Signale setzen, meine Präsenz “markieren” sollte. Man soll bemerken, dass ich da bin und etwas zu sagen habe, und das geht, so denke ich, wohl am besten, wenn ich ein paar Veränderungsmaßnahmen setze, die sichtbar sind und möglichst viele Mitarbeiter:innen betreffen.
Ich gehe es vorsichtig an, weil ich weiß, wie schlecht es von einer Belegschaft aufgenommen wird, wenn neue Chefs Neuerungen anordnen, nur um Signale zu setzen, noch bevor sie sich ein Bild über die bestehenden Gegebenheiten gemacht haben. Überdies ist die Gefahr, in Fettnäpfchen zu treten und sich zu blamieren, in dieser Phase besonders groß.
Wenn ein neuer Chef, eine neue Chefin sich in Aktionismus übt, Bestehendes abwertet und schlechtredet, funktionierende Strukturen auf den Haufen wirft, und Mitarbeiter:innen, die schon seit Jahren in ihrem Fachgebiet arbeiten, erklären will, wie die Dinge zu erledigen sind, ist die Reaktion auf Seiten der Belegschaft im besten Fall ein mildes Lächeln. Im schlechtesten Fall provoziert man Demotivation und Widerstand.
Mitarbeiter:innen, die man durch Herablassung, Überheblichkeit und Besserwisserei vergrämt, haben immer Möglichkeiten, ihre Chef:innen fachlich auflaufen zu lassen, bzw. ihnen nicht aus den Fettnäpfchen heraus zu helfen, in die diese sich aus Mangel an spezifischer Fachexpertise hineinmanövriert haben. Mitarbeiter:innen, die man respektlos behandelt hat, sehen dann schadenfroh zu, wie die neuen Chef:innen auf die Nase fallen.
Das will ich vermeiden. Ich will mich fachlich nicht in Bereiche einmischen, von denen ich wenig versteht, und setze deshalb vorerst nur ein paar kleine Akzente.
Ich weise die Abteilungsleiter:innen an, die Unterschriftenmappen nicht mehr bei der Sekretärin zu deponieren, sondern sie zu bestimmten, ausgemachten Zeiten persönlich in mein Büro zu bringen und anwesend zu sein, wenn ich die Briefe, Rechnungen und Verträge durchsehe und unterschreibe. Damit erwische ich mehrere Fliegen auf einen Schlag: Ich lerne die Abteilungsleiter:innen kennen, ich kann Fachfragen stellen, die mich interessieren, und ich kann erkennen lassen, dass ich nicht alles blind unterschreibe, sondern ein gewisses Maß an Kontrolle auszuüben gedenke.
Als nächstes lasse ich ein paar Standardformulierungen in der Korrespondenz verändern. Der schwerfällige, an Juristendeutsch und Behördenschreibweise angelehnte Stil der Unternehmenskorrespondenz erscheint mir für ein modernes Dienstleistungsunternehmen unpassend und nicht mehr zeitgemäß. Formulierungen wie „Wir werden Sie zum gegebenen Zeitpunkt informieren“ oder „Das Abstellen von … ist untersagt und ersuchen wir Sie, diese zu entfernen“, möchte ich durch kundenfreundliche und grammatikalisch korrekte Formulierungen ersetzt haben. Überdies ist es mir ein Anliegen, dass die Briefe, die unser Unternehmen verlassen, verständlich formuliert sind.
Ich stelle eine kleine Arbeitsgruppe aus engagierten Mitarbeiter:innen zusammen und ziehe eine Kommunikationsexpertin hinzu. Gemeinsam sollen sie die Standardtexte überarbeiten. Die meisten Mitarbeiter:innen freuen sich über die nunmehr kürzeren und besser verständlichen Texte. Es gibt aber auch einige, die sich trotzig stellen und vorgeben, die grammatikalische und atmosphärische Fragwürdigkeit der alten Texte nicht zu erkennen. Sie liefern mir eine kleine Machtprobe. Zweimal ermahne ich, und beim dritten Mal gebe ich die Briefe zurück und kündige an, erst zu unterschreiben, wenn die Formulierungen in Ordnung sind. (Es wird Jahre dauern, bis die alten Formulierungen endgültig ausgemerzt sein werden. Doch das ist ein anderes Kapitel.)
Schließlich sorge ich als personalverantwortliches Vorstandsmitglied dafür, dass das Rauchen aus den Büroräumlichkeiten verbannt wird. Bisher wurde überall im Haus in einem Ausmaß gequalmt, wie ich es noch nie in einem Unternehmen gesehen habe. Ich organisiere einen Raum als Raucherkammer um und vereinbare mit dem Betriebsrat, wie oft am Tag dorthin gegangen werden darf um zu rauchen. Mir ist klar, dass ich damit bereits zu Beginn riskiere, mich unbeliebt zu machen, doch das nehme ich in Kauf. Es ist nicht meine vordringlichste Aufgabe als Führungskraft, beliebt zu sein.
Für den ersten Monat scheint es mir damit genug zu sein mit den Neuerungen. Ich will die Vorstandskollegen und die Mitarbeiter:innen nicht überfordern. Die kleinen Veränderungen rufen ohnehin bereits einigen Argwohn auf den Plan – sowohl bei der Belegschaft als auch bei den Vorstandskollegen. „Was kommt als Nächstes?“ lese ich amüsiert in ihren besorgten Gesichtern.
Wertschätzung für die Sekretärin
Mit Frau K., meiner Sekretärin, bespreche ich jeden Morgen die bevorstehenden Termine. Ich scheine Glück mit ihr zu haben. Frau K. ist nicht nur in ihrer Erscheinung eine Dame mit Stil und Eleganz, sondern auch in ihrem Auftreten und ihrem Benehmen. Sie ist seit langem im Unternehmen und verfügt über mehr Wissen über den Betrieb und die Belegschaft, inklusive der Vorstandsetage, als alle anderen. Sie kennt offene und versteckte Geheimnisse, weiß um Gepflogenheiten, die in keinem Handbuch vermerkt sind, kennt Vorlieben und Empfindlichkeiten der anderen Vorstände, der Mitarbeiter:innen und der wichtigen Personen rund ums Unternehmen. Sie ist eine gereifte, ausgeglichene Persönlichkeit und bewahrt die Ruhe, egal, was geschieht. Wie viele gute Sekretärinnen ist sie eine Schlüsselkraft im Unternehmen. Ihr begegnen alle mit Respekt.
Natürlich weiß ich, dass ich auch bei ihr unter aufmerksamer Beobachtung stehe. Sie versucht, meinen Arbeitsstil zu erkunden und ihre Freiräume auszuloten. Bleibt ihre Position unverändert oder muss sie sich an Neues anpassen? Habe ich dieselben Wünsche an sie wie mein Vorgänger, dessen Sekretärin sie viele Jahre lang war? Sie macht es klug und benennt die Felder, die der Klärung bedürfen. Wollen Sie es weiter so oder soll ich dieses oder jenes anders machen? fragt sie mich mehrmals am Tag, sieht mir dabei freundlich lächelnd in die Augen und signalisiert Wohlwollen. Ich bewundere ihre stilvolle Professionalität und bin ihr dankbar.
Und wieder eine Bescheidenheitsfalle
Nicht nur weil sie älter ist als ich, habe ich Skrupel, mir von ihr den Morgenkaffee servieren zu lassen. Ich brauche keine persönlichen Dienstleistungen, sage ich, servieren Sie bitte nur, wenn Gäste da sind. Aber ich mache es gerne, entgegnet sie mir mit einem leichten Aufblitzen in den Augen, das ich als Warnung interpretiere. Und sie hat tatsächlich Recht mich zu warnen, denn ich bin gerade dabei, in eine weibliche Falle zu tappen. Meine Kollegen lassen sich ganz selbstverständlich den Kaffee servieren, und wahrscheinlich sollte ich wirklich nicht das einzige Vorstandsmitglied sein, das sich den Kaffee aus der Küche selbst holt. Insbesondere nicht als Frau. Also bedanke ich mich und sage mit einem Augenzwinkern, dass ich es als Privileg betrachte, von ihr mit Kaffee bewirtet zu werden.
Ich gehe es insgesamt sachte an, rede nicht im Befehlston, sage stets „bitte“ und „danke“, verbreite keinen Schrecken unter der Belegschaft – und bin dadurch, wie ich bald mitbekomme, dabei, mir einen Ruf als schwache Chefin einzuhandeln.
Ist Freundlichkeit ein Zeichen von Schwäche?
Noch bevor ich mir viele Gedanken darüber machen brauche, ob ich vielleicht doch ein wenig bestimmter und machtbewusster auftreten soll, ergibt sich unerwartet eine Gelegenheit. Die beiden Vorstandskollegen treffen über meinen Kopf hinweg eine Entscheidung ohne mich einzubinden. Dies ist nicht nur ein unfreundlicher Akt, er verstößt auch gegen die Betriebsverfassung. Da der Fall im Unternehmen publik geworden ist, kann ich ihn nicht mehr kollegial lösen ohne das Gesicht zu verlieren. Ich lasse mich also auf den Machtkampf ein, gewinne ihn, und setze danach Maßnahmen, die meinen Sieg für die Belegschaft sichtbar machen.
Respekt, sagt der Betriebsrat, und auch meine beiden Kollegen scheinen ganz zufrieden zu sein, obwohl sie das Scharmützel verloren haben. Meine sanfte Art entsprach wohl nicht den Vorstellungen, die sie von einer taffen Chefin hatten. Offenbar wollten sie herausfinden, wie weit sie gehen konnten, bis es kracht. Auf ihre Art haben sie mich gezwungen, für Klarheit zu sorgen, und nun, da alle wissen, woran sie mit mir sind, sind alle zufrieden. Ich fürs erste auch.
Tipps der Mentorin:
Bestehendes im Unternehmen wertzuschätzen ist nicht nur ein Gebot des Respekts, sondern macht Mitarbeiter:innen auch eher offen für Veränderungen.
Auch wenn die Augen von Mitarbeiter:innen eher auf die “schwierigen” Vorgesetzten und ihre Anliegen gerichtet sind, weil von ihnen mehr “Gefahr” ausgeht, zeugt es von persönlicher Souveränität, den Stil des höflichen und wertschätzenden Umgangs beizubehalten. Freundlichkeit und Bestimmtkeit schließen einander nämlich nicht aus.