In ländlichen Gebieten scheint das formelle „Sie“ im Alltag fast ausgestorben zu sein. Mädele, fahrst mit? duzt mich der junge Busfahrer im Dorf, obwohl er mein Sohn sein könnte. Griass di, sagen die halbwüchsigen Nachbarskinder am Urlaubsort. Auch in hippen Großstadtbezirken findet sich kaum ein Lokal, in dem die junge Bedienung mich nicht duzt. Viele Unternehmen pflegen mittlerweile den legeren Umgang mit Mitarbeiter:innen und Kundschaft, den das legendäre schwedische Möbelhaus einst eingeführt und ausdrücklich zu seinem Markenzeichen gemacht hat.
Ich selbst bin schon in jungen Jahren in ein berufliches Milieu geraten, in dem das Du-Wort als Zeichen demokratischer Gesinnung nicht nur unter Kolleg:innen, sondern auch zwischen Vorgesetzten und Mitarbeiter:innen zelebriert wurde. Damals war dies noch eine seltene Ausnahme. Es hat eine Weile gebraucht, bis sich alle daran gewöhnt hatten.
Die Mentorin berichtet:
In meiner neuen Firma höre ich mich um und stelle einen Mix aus beiden Anreden fest. Innerhalb von Abteilungen duzt man sich für gewöhnlich. Von den jungen Leuten werden neue junge Kolleg:innen ganz selbstverständlich per Du angesprochen. Wird jemand gesiezt, mit dem/der man Tür an Tür sitzt, dann ist dies ein untrügliches Zeichen, dass er/sie nicht so recht dazu gehört. Auch über Abteilungsgrenzen hinweg beobachte ich vielfach das Du-Wort, insbesondere unter Mitarbeiter:innen, die schon seit langem im Unternehmen sind. Meine Vorstandskollegen duzen einige der Mitarbeiter:innen, wobei ich keine Systematik in ihrer Auswahl erkennen kann. Da ist wohl so manches historisch gewachsen, vielleicht am Betriebsausflug, bei Weihnachtsfeiern oder bei gemeinsamen Dienstreisen. Die Beteiligten scheinen sich mit dem jeweiligen Arrangement ganz entspannt zu fühlen.
Das Du-Wort muss klar deklariert bzw. vereinbart werden
Ich biete vorerst niemandem aus der Belegschaft das Du-Wort an. Ich will Distanz wahren, und es gibt auch in den ersten paar Monaten keinen Anlass, die Ebene der Anrede zu wechseln. Auch mit Branchenkolleg:innen halte ich es fürs erste formell. Das Du-Wort wird erst verwendet, wenn man sich ausdrücklich dafür entscheidet und es beiderseitig deklariert.
Anders macht es ein Mitglied des Aufsichtsrates, eine Politikerin, in deren Partei das allgemeine Du als Zeichen der Verbundenheit für alle gebräuchlich ist. Sie bringt diese Gepflogenheit mit, wenn sie in unser Unternehmen kommt, und spricht Mitarbeiter:innen auf allen Ebenen per Du an. Sie hat ihnen das Du-Wort nie pauschal oder inividuell angeboten, und so sind die Mitarbeiter:innen irritiert. An hierarchische Verhältnisse gewohnt und unvertraut mit der Du-Tradition, ist ihnen sichtlich nicht wohl, die Aufsichtsrätin zurück zu duzen. Man schaut verlegen weg, vermeidet die direkte Anrede, behilft sich mit neutralen Grußformeln („Hallo“),
Ein rasches Du, das man später bereut?
Für ähnliche Verunsicherung sorgte meiner früheren Vorgesetzten, als er bei einer weinseligen Jubiläumsfeier verkündete, dass ihn ab sofort alle, die mehr als fünf Jahre im Unternehmen arbeiteten, per Du ansprechen dürften. Man konnte die Köpfe buchstäblich rauchen sehen beim Nachrechnen der Dauer der eigenen Betriebszugehörigkeit und bei der Frage, ob das Angebot auch tatsächlich morgen noch gelten würde, oder ob Gefahr besteht, dann doch zurechtgewiesen zu werden, weil das Angebot nur eine Laune des Abends war.
Klare Verhältnisse schaffen
Um solche unnötigen Peinlichkeiten zu vermeiden, sollten Vorgesetzte an der Anrede-Front klare Verhältnisse zu schaffen. Wird im Unternehmen das allgemeine Du praktiziert, sind neue Mitarbeiter:innen bei ihrer Einstellung ausdrücklich davon in Kenntnis zu setzen.
Wer darf das Du-Wort anbieten?
Ist das Du nicht Allgemeinkultur, stellt sich die Frage: Wer bietet wem das Du-Wort an? Eine alte Regel sagt, dass Ältere es Jüngeren anbieten sowie die Frau dem Mann. Letzteres hat wohl noch für altmodische Rendezvous Gültigkeit. Im Berufsleben gilt, dass Hierarchie wichtiger ist als Alter oder Geschlecht. Es bleibt immer hierarchisch Höherstehenden vorbehalten, das Du-Wort anzubieten.
Darf man das Angebot des Du-Wortes ablehnen?
Bietet einem der Chef/die Chefin das Du-Wort an, wird man sich als Mitarbeiter:in im Allgemeinen darüber freuen. Es kann aber auch vorkommen, dass man mit dem/der Vorgesetzten nicht per Du sein will. Dann kann man das Angebot des Du-Worts durchaus auch ablehnen. Es empfiehlt sich natürlich, die Ablehnung freundlich zu formulieren und einen guten Grund für sie anzuführen, damit sie nicht als Brüskierung erscheint. Man kann beispielsweise die Befürchtung äußern, dass es zu Eifersüchteleien zwischen Kolleg:innen kommen könnte, wenn der Chef mit einem per Du ist und mit den anderen nicht, oder dass man sich im Kontakt mit Kunden und Geschäftspartnern wohler fühle, wenn die Hierarchie auch durch die Form der Anrede gewahrt bleibt.
Eine heikle Angelegenheit ist dies allemal, und daher sollten verantwortungsvolle Vorgesetzte, die Mitarbeiter:innen das Du-Wort anbieten, etwaige Auswirkungen auf deren Situation im Unternehmensgefüge mitbedenken.
Auch mit Geschäftspartner:innen ist man heutzutage oft per Du. Meist ergibt sich das Du-Wort im Rahmen von Branchentreffen oder Feiern, oder aber man „befreundet“ sich in sozialen Medien, duzt einander dort, und behält es im Geschäftsalltag bei. Heikel ist in diesem Fall nur, wenn man sich nicht gemerkt hat, mit welchen Geschäftspartner:innen man sich schon auf ein Du geeinigt hat. Die kleine Zurechtweisung „Wir waren schon mal per Du“, ist zumindest mir immer ein wenig peinlich.
Wie einfach ist es doch auf Englisch!
Es ist kaum zu vermeiden, dass rund um die beiden Anrede-Formen immer wieder mal heikle und unklare Situationen entstehen. Dann mag man sich eine Muttersprache wie das Englische herbeiwünschen, wo es keinen solchen Unterschied gibt. So wie die Dinge bei uns liegen, muss man ständig auf der Hut sein und diplomatisch handeln. Und obwohl der legere Umgang auch im Geschäftsleben immer mehr um sich greift, ist man im Zweifelsfall mit dem Beibehalten des formellen „Sie“ dennoch auf der sicheren Seite.