Zum menschlichen Wesen gehört der Hang zum Tratschen. Laut soziologischen Erkenntnissen soll Tratsch sogar gesund für die Seele sein, weil er so etwas wie sozialen Kitt darstellt. Nicht immer ist Tratsch jedoch wohlwollend, wie wir alle sicher schon erfahren haben.

Böser Tratsch

Erst kürzlich habe ich unfreiwillig eine Kostprobe von bösem Tratsch abbekommen. Ich saß mittags in einem Lokal an einem Tisch, der von einem mit dichten Grünpflanzen berankten Paravent von den Nachbartischen abgetrennt ist. Auf der anderen Seite des Paravents hatten Mitarbeiter:innen einer unserer Abteilungen Platz genommen. Sie warteten auf ihr Essen und bemerkten mich nicht.

Sie redeten über ihre Nachbarabteilung. Feixend wurden die neuesten Versäumnisse der angeblich „inkompetenten“, „gedankenlosen“ und bodenlos „dummen“ Kolleg:innen dieser Abteilung erörtert. An niemandem wurde ein gutes Haar gelassen. Die mit höhnischem Unterton geführte Unterhaltung fand auf einem durchaus gehobenen Level der Empörung statt.

Das wird der Verdauung des Mittagessens nicht guttun, dachte ich ein wenig säuerlich. Unvertraut war mir solches Gerede natürlich nicht, denn ich kannte es aus anderen Firmen. Als ich gerade Überlegungen anstellen wollte, welche Funktion eine solche gemeinschaftliche Feixerei denn wohl haben könnte (ein gemeinsamer Feind, der verbindet? ein Ventil, um Druck abzulassen? eigene Unzulänglichkeiten verdecken?), hob die Wortführerin der Gruppe die kollektive Empörung auf eine neue Ebene, indem sie sagte: Das geht alles nur, weil die Führung es deckt.

„Wir“ und „die anderen“ – und ganz besonders „die da oben“

Ihre verächtliche Handbewegung sah ich zwar nicht, konnte sie aber spüren. Nun wurde ich neugierig, denn gleich würde es um mich gehen. Doch nein, noch war ich nicht an der Reihe, sie zogen zunächst über einen Prokuristen her, machten sich über seine Art zu reden lustig, bemäkelten seine Kleidung und unterstellten ihm Führungsschwäche. Einem Vorstandskollegen sprachen sie die Kompetenz für seine Positionen ab. Erst jetzt kam ich an die Reihe. Ich hätte meine Stelle nur bekommen, weil ich eine Affäre mit einem Aufsichtsratsmitglied hätte, wurde in den Raum gestellt. Dies schien den anderen Anwesenden – vielleicht nicht zuletzt angesichts meines bereits fortgeschrittenen Alters – nun doch etwas weit hergeholt zu sein, denn zunächst sagte darauf keiner was.

Doch, ich weiß es genau, insistierte der, der die Behauptung aufgestellt hatte, im Brustton der Überzeugung.

Mich hätte noch interessiert, mit welchem Aufsichtsratsmitglied ich angeblich liiert gewesen war, doch ich erfuhr es nicht mehr. Die Gruppe war bereits beim nächsten Opfer. Mir war der Appetit vergangen. Ich machte mich heimlich davon und zahlte an der Theke. Ihre Gesichter im Fall, dass ich mich ihnen gezeigt hätte, wollte ich mir nicht vorstellen. Es war mir für sie peinlich.

Warum setzen an sich freundliche Menschen böse Gerüchte in die Welt?

Halbwegs betroffen ging ich ins Büro zurück und hielt mir vor Augen, dass alle, wie sie dort saßen, eigentlich nette, freundliche und hilfsbereite Menschen sind, denen ihr Job im Großen und Ganzen Freude macht. Sie sind bei allen geselligen Anlässen des Unternehmens dabei und verbringen auch private Zeit miteinander und mit ihren Kolleg:innen – auch mit jenen aus der anderen Abteilung, über die sie hergezogen waren. Was um alles in der Welt bringt sie dazu, derart zu lästern, ihre Kolleg:innen herabzuwürdigen, gegen sie zu hetzen und Lügengeschichten zu erzählen? Warum laden sie sich in ihrer Mittagspause gegenseitig so negativ auf, dass sie am Ende alle vom Tisch aufstehen und davon überzeugt sein müssen, in der schlimmsten Firma der Welt zu arbeiten?

Bemerken sie denn nicht, welchen Schaden sie anrichten – in sich selbst und bei den anderen? Sicher bin ich nicht die Einzige, die so etwas jemals mitgehört hat. Derartiges Gerede hat vielleicht schon viele andere zutiefst verletzt.

Was würde, so überlege ich weiter, mit jemandem passieren, der bei diesem bösen Spiel nicht mitmacht und die Unkultur der Negativität und Herabwürdigung in Frage stellt? Würde er/sie etwas bewirken oder würde die Person mit Misstrauen beäugt und zur Außenseiterin gestempelt werden?  

Gerüchte verbreiten sich mit Windgeschwindigkeit

Als wäre das noch nicht genug gewesen für diesen Tag, erwartet mich zurück im Büro die nächste Überraschung. Zuerst kontaktiert mich der Betriebsrat. Im Unternehmen wird gerade umgebaut, und kürzlich hat der Vorstand als Ausgleich für die damit verbundenen Unannehmlichkeiten allen Mitarbeiter:innen im Haus eine Prämie zuerkannt. Der Betriebsrat will, dass auch karenzierte Mitarbeiter:innen, die gar nicht da sind, und Außendienstmitarbeiter, die sich sehr selten im Bürohaus aufhalten, diese Prämie erhalten. Ich erläutere ihm noch einmal den Zweck dieser Prämie – nämlich Kompensation für die Unannehmlichkeiten wegen des Baugeschehens vor Ort – und lehne ab.

Kurz darauf kommt eine Abteilungsleiterin auf mich zu und teilt mir eifrig mit, dass in der Firma „Aufruhr“ herrsche, weil man gehört habe, dass alle Mitarbeiter:innen – also nicht nur jene, die die Baumaßnahmen erdulden müssen, sondern auch jene, die gar nicht da seien – die Prämie erhalten. So sei die Prämie eine Farce, meint sie. Ich frage sie, woher sie das wisse. Sie sagt, alle im Haus wüssten es.

Jetzt muss ich mich schon ein wenig zusammenreißen um nicht ungehalten zu reagieren. Ich stelle die Angelegenheit richtig und frage sie und mich selbst, wie um alles in der Welt dieses Gerücht entstehen konnte und warum es sich so rasch verbreitet hat. Offenbar tun die eingeschränkten örtlichen Kommunikationsmöglichkeiten in unserem Haus der Dichte und Verbreitungsgeschwindigkeit von Gerüchten keinen Abbruch, merke ich süffisant an, denn auf verschlungenen Wegen finden sie in Windeseile überall hin – sofern sie nur genügend Empörungspotenzial in sich tragen. Ich sage der Mitarbeiterin, dass ich persönlich enttäuscht über solche Gerüchte bin und hoffe, dass sie es weitersagt. Es wird allerdings, dessen bin ich mir sicher, in der Firma auf kein großes Interesse stoßen.

Über Chef:innen wird überall gelästert

Ich versuche, diese Posse genau wie die mittägliche Episode nicht persönlich zu nehmen. Als Chefin muss man damit rechnen, dass über einen gelästert wird. So ist es überall, da darf man nicht überempfindlich sein. Und dennoch ist der Tag für mich verdorben.

Warum Lügen? frage ich mich. Und warum Hetze gegen Kolleg:innen, gegen die man persönlich gar nichts hat, und die man vielleicht sogar mag? Woher kommt die offensichtliche Bereitschaft von Menschen, Negatives über andere unhinterfragt aufzunehmen und mit ein bisschen eigenem Gift versehen genüsslich weiterzubereiten?

Es braucht offenbar keine „sozialen“ Medien und keine fragwürdigen Vorbilder wie Trump & Co., um eine negative Perspektive auf die Umwelt einzunehmen und Fake News zu verbreiten. Das konnten die Menschen schon vorher. Die Medien, die heute zur Verfügung stehen, verstärken die Sache nur.  

Ich hätte doch hinter dem Paravent hervortreten und die Mitarbeiter:innen mit ihren Behauptungen konfrontieren sollen, denke ich. Es wäre zwar für alle Beteiligten im Moment höchst unangenehm gewesen, doch vielleicht hätte ich damit bei dem einen oder der anderen den Anstoß gegeben, ein bisschen über das eigene Verhalten nachzudenken. Und nicht nur über das in der Firma.

DIE KOMMENDEN BEITRÄGE BEFASSEN SICH MIT DEM THEMA „FRAU UND KARRIERE“