Im heutigen und in den nächsten Einträgen will ich mich den Anfängen widmen, dem Anfang der Berufstätigkeit, der Suche nach einem neuen Job, dem Antritt einer neuen Position.

Ich bin mittlerweile Führungskraft, doch das war natürlich nicht immer so. Auch ich habe „klein“ angefangen, mich hoch gearbeitet, und kenne daher Bewerbungssituationen aus beiden Perspektiven – sowohl der von Bewerber:innen als auch der von Personalverantwortlichen. Die Betrachtungen, die ich hier wiedergebe, sind vor allem jene einer Personalverantwortlichen. Von Interesse sind sie aber sicherlich vorwiegend für jene, die sich um einen neuen Job bewerben.

Die Mentorin berichtet:

Fast täglich erreichen mehrere Bewerbungsschreiben unser Unternehmen, auch wenn keine Stelle ausgeschrieben ist. Ich blättere alle Bewerbungen kurz durch. Ich könnte die Personalabteilung um eine Vorauswahl bitten, tue dies aber nicht. Erstens möchte in Bezug auf den Arbeitsmarkt in meiner Branche auf dem Laufenden bleiben. Und zweitens, und das ist wichtiger, will ich nicht, dass uns interessante Bewerbungen entgehen, nur weil sie etwa ungewöhnliche Lebensläufe wiedergeben und nicht den gängigen Standards entsprechen, nach denen eine Personalabteilung für gewöhnlich über eine Weiterbearbeitung entscheidet.

Bewerbungen früher

Dabei erinnere ich mich mit leiser Wehmut an meine eigenen Anfänge vor vielen Jahrzehnten. Ja, auch ich habe einmal klein angefangen, sehr klein sogar, und ziemlich unkonventionell noch dazu. Mein Arbeitsbeginn fiel allerdings in die sorglosen 1970er Jahre, als es so viele offene Stellen gab, dass man es sich quasi aussuchen konnte, wo man arbeiten wollte.

Ich verließ die Schule vorzeitig und ohne Abschluss. Die Provinz war mir zu eng geworden, und so zog ich, gerade mal achtzehn Jahre alt, in die große Stadt. Dort machte ich mich auf die Suche nach Arbeit. Was Arbeiten bedeutete, wusste ich schon ein bisschen, denn ich hatte schon mehrere Ferialjobs in Hotels und Restaurants gehabt. Nun suchte ich etwas Dauerhaftes. 

Jemand sagte mir, dass Arbeitsstellen in Zeitungen inseriert werden. Also kaufte ich eine Zeitung und fertigte eine Liste mit Firmen an, die mir interessant erschienen, vor allem Reisebüros, denn ich wollte gerne viel reisen. Am nächsten Tag rief ich an, am übernächsten Tag saß ich bereits an einem Schreibtisch einer Reisefirma. Leider hatte mein Job mit Reisen nichts zu tun, und so kündigte ich nach einem Jahr. Ich kaufte mir wieder eine Zeitung und bewarb mich für eine andere Stelle.

Diesmal war der Bewerbungsprozess ein wenig aufwändiger. Bei meinem ersten Bewerbungsgespräch saßen mir fünf Männer und eine Frau in weißen Mänteln, alle Wissenschaftler, gegenüber und betrachteten mich prüfend. Ich trug Jeans, ein besticktes indisches Hemd und Clarks. Damit es zu keinen Missverständnissen kam, erklärte ich gleich zu Beginn, dass ich weder Maschineschreiben noch Stenographie beherrschte (schließlich kam ich aus einem Gymnasium, wo man derlei Fertigkeiten nicht lernte). Man schmunzelte und schickte mich zur Personalchefin der Universität, die mich im Hinblick auf meine Eignung als Sekretärin testen sollte. Das Glück war auf meiner Seite, denn die Personalchefin war an jenem Tag krank. Wäre sie nämlich da gewesen, hätte ich meine Sachen wohl gleich wieder packen können. Der Leiter des Instituts, der, wie er sagte, von meiner offenen Art und meinem unkonventionellen Auftreten angetan war, wollte nicht warten und stellte mich kurzerhand ein. Fortan führte ich das Sekretariat eines Universitätsinstituts.

Ich erfuhr, dass ich achtunddreißig Mitbewerberinnen aus dem Feld geschlagen hatte. Sie waren wahrscheinlich alle weit besser für den Sekretariatsjob qualifiziert als ich, doch nach Ansicht der Wissenschafter:innen passte ich am besten zum Team. Das Tippen mit zehn Fingern brachte ich mir rasch selbst bei. Steno erübrigte sich bald, weil in jenen Tagen Diktiergeräte in Mode kamen. Ich blieb dort fünf Jahre, schloss nebenbei die Schule ab, und werde nach all den Jahrzehnten immer noch jedes Jahr zur Weihnachtsfeier an dieses Institut eingeladen.

Bewerbungen heute

So läuft es heute nicht mehr. Heute liegen mir beeindruckende Bewerbungsschreiben vor mir, hoch professionell verfasst und aufwändig gestaltet von jungen, vielfältig qualifizierten Menschen in ihren Zwanzigern, mit einem ganzen Stapel an Zeugnissen und Zertifikaten als Anlagen. Die jungen Leute haben ein Studium oder eine andere gediegene Ausbildung hinter sich, haben Zusatzqualifikationen und Auslandserfahrung erworben, verfügen über Fremdsprachkenntnisse, und – suchen monatelang erfolglos – nach einem Job. Sie versenden Dutzende oder gar Hunderte von Bewerbungsschreiben für Stellen, die oft weit unter ihrem Qualifikationsniveau liegen, und geben sich mit einer geringen Bezahlung zufrieden, wohl wissend, dass sie alles tun müssen, um einmal den berühmten Fuß in der Tür zu haben.

Auswahlkriterien

Von einem Personalchef weiß ich, dass der Preiskampf auch im Personalwesen heutzutage allenthalben ziemlich schamlos betrieben wird. Er erzählte mir voll Stolz, dass er, wenn eine Stelle zu besetzen ist, alle in Frage kommenden Bewerber:innen anschreiben lasse, sie nach ihren Gehaltsvorstellungen frage, und dann den/die „Billigste/n“ nehme. Damit erspare er sich eine Menge Auswahlarbeit, meint er, und der Firma einiges an Gehaltskosten. Ob Bewerber:innen sozial kompetent sind und menschlich ins Team passen, spielt offenbar keine Rolle. Den Bewerber:innen wird ihre Austauschbarkeit gleich zu Beginn ihrer Karriere klar und deutlich vor Augen geführt, und hält sie vielleicht davon ab, höhere Ansprüche zu entwickeln.

Ein Fuß in der Tür

Ich habe mich manchmal geradezu geschämt, exzellent ausgebildeten jungen Leuten mäßig bezahlte Anfängerjobs anzubieten. Dann habe ich jedoch beobachtet, dass die Bewerber:innen ausnahmslos dankbar waren, überhaupt eine Chance zu bekommen.

Überdies zeigt sich überraschend häufig, dass viele Bewerber:innen trotz ihrer zahlreichen (unbezahlten) Praktika, die sich im Bewerbungsbogen so eindrucksvoll machen, noch sehr wenig brauchbare berufliche Erfahrung haben. Umso bedeutender ist es für sie, den berühmten „Fuß in die Tür“ zu bekommen.

Spricht mich eine „Blindbewerbung“, also ein Bewerbungsschreiben auf gut Glück, besonders an, lade ich den Bewerber oder die Bewerberin zu einem Gespräch ein, auch wenn im Augenblick keine Stelle zu besetzen ist. Ich deklariere im Vorfeld die Unverbindlichkeit des Gesprächs, und habe noch nie erlebt, dass jemand diese, wenn auch nur winzig kleine Chance nicht wahrgenommen hat. Mehr als einmal ist es vorgekommen, dass wir auf einen Bewerber/eine Bewerberin, der/die einen guten Eindruck hinterlassen hat, zu einem späteren Zeitpunkt zurückgekommen sind.

Ältere Bewerber:innen

Noch schwerer haben es ältere Bewerber:innen. Erschütterndes bekomme ich da gelegentlich zu sehen. Erst unlängst langte ein Bewerbungsschreiben ein, auf dessen Deckblatt ein bittendes Skelett abgebildet war, versehen mit dem Text: Bitte nicht wegwerfen, ich warte schon so lange. Es war von einem Menschen verfasst, der nach langer Krankheit wieder arbeiten wollte und dies in seinem Schreiben in drastischer Weise darlegte.

Nicht nur aus makabrem Humor, wie er aus dem erwähnten Bewerbungsschreiben spricht, kann man zwischen den Zeilen lesend erahnen, welche Niederlagen und Demütigungen Arbeitskräfte, viele schon nahe am Pensionsalter, bereits erfahren haben, wenn sie sich noch einmal auf den Markt begeben müssen. Abteilungs- oder Betriebsschließungen, Firmenfusionen oder einfach Rationalisierungsprozesse, wie sie heute gang und gäbe sind, haben sie aus ihrer Lebensbahn geworfen. Die wenigsten haben das bekommen, was man den Golden Handshake nennt. Umso bitterer, wenn man ihnen keine Stelle anbieten kann. (Auf die Vorzüge älterer, erfahrener Arbeitskräfte gehe ich einem späteren Eintrag ausführlich ein.)

Brechen neue goldene Zeiten für Arbeitnehmer:innen an?

Mittlerweile scheinen am Arbeitsmarkt neue Zeiten anzubrechen. Viele Branchen klagen über Arbeitskräftemangel und suchen händeringend nach Mitarbeiter:innen. Vielleicht brechen für Arbeitskräfte bald wieder goldene Zeiten wie eines in den 1970er Jahren an?

Es mag Branchen geben, in denen bereits jetzt so gut wie jede/r genommen wird. Doch für höher qualifizierte Jobs besteht der Konkurrenzkampf wohl noch weiter, und so ist es nach wie vor sehr wichtig, den Bewerbungsprozess – Bewerbungsschreiben und Bewerbungsgespräch – sorgfältig anzugehen. Worauf personalverantwortliche Führungskräfte achten, wenn sie es mit Bewerbungen zu tun bekommen, erläutere ich in den nächsten Einträgen.