Einst hatte ich, im Rahmen einer Expertentagung, die Gelegenheit, an einem exklusiven Rundgang im Moskauer Kreml teilzunehmen. Als wir den imposanten Raum betraten, in dem der russische Präsident seine Staatsgäste empfängt, fühlte ich mich sofort verloren und winzig klein. Den anderen ging es genauso, und es lag auf der Hand, dass mit der Größe und Gestaltung dieses Raumes genau diese Wirkung beabsichtigt ist: Jedem Gast sollen die Machtverhältnisse allein schon durch die räumlichen Gegebenheiten eindeutig klar werden.

Zum Glück musste ich den Hausherrn nicht treffen, geschweige denn, an diesem Ort mit ihm über irgendeine heikle Angelegenheit verhandeln. Aber ich habe eine Lektion zum Thema “Insignien der Macht” gelernt.

„Macht“ ist omnipräsent und dennoch oft unsichtbar

Nicht immer werden einem die Machtverhältnisse derart erdrückend vor Augen geführt. Dennoch begegnet uns das Thema Macht auf Schritt und Tritt. Zu Machtstrukturen, Machtdemonstrationen, Zuschaustellung von Macht, Missbrauch von Macht, usw. ist schon viel Kluges geschrieben worden. Allerdings meist eher, wenn es um Politik geht, weniger im Zusammenhang mit Wirtschaft und dem Geschehen in Institutionen. Doch Macht ist ein omnipräsentes Thema, im Berufsleben genauso wie im privaten Alltag.  

Wie mächtig ist das Gegenüber?

Lernen sich zwei Personen kennen, schätzen beide automatisch, meist ohne sich dessen gewahr zu sein, in Sekundenschnelle ein, wie mächtig das Gegenüber ist. Steht er/sie über mir oder bin ich am längeren Hebel? Bei Unbekannten versuchen wir uns in wenigen Augenblicken an äußeren Zeichen zu orientieren, an der Kleidung, am Auftreten, an der Wortwahl. Dann machen wir uns in Blitzesschnelle ans weitere Erkunden über das Gegenüber. Woher kommt er/sie? Wen vertritt er/sie? Wer steht hinter ihm/ihr? Am Ergebnis unserer – oft unbewusst getroffenen – Einschätzung richten wir dann unser Verhalten aus.

Wir denken die Machtverhältnisse mit

Der Kollege und ich haben einen kühnen Plan, für dessen Umsetzung wir potente und risikofreudige Partner brauchen. Wir gehen in Frage kommenden Personen durch. „S.“, schlage ich vor, „der ist für neue Ideen immer zu haben.“ „Stimmt“, antwortet mein Kollege, „und er sitzt auch an der richtigen Position. Aber es geht nicht, denn er ist zu schwach. Wir müssen mit M. reden“. Der Kollege hat recht. M. steht formal auf derselben Stufe wie S., doch jeder weiß, dass er es ist, der in dem fraglichen Unternehmen – und darüber hinaus – das Sagen hat. Diese Machtverteilung geht aus keinem offiziellen Dokument hervor, sie ist aber ein Faktum, und alle wissen Bescheid.

Eine junge Frau, einst meine Mitarbeiterin, der ich noch eine glänzende Karriere vorhersage, kommt zu mir und fragt mich um einen Rat. Sie will sich bei einer Institution bewerben, deren interne Verhältnisse ich sehr gut kenne. Ich lege ihr Schlüsselsätze für das Bewerbungsgespräch in den Mund, die vor allem darauf zielen, auch den Betriebsrat zu überzeugen. Dieser hat zwar formell bei der Bestellung nichts mitzureden, ist aber, wie ich weiß, de facto ziemlich mächtig und sehr wohl in der Lage, die Personalentscheidung zu beeinflussen.

In den Büros dieser Welt werden solche Überlegungen täglich zu Tausenden angestellt. Den Begriff „Macht“ nehmen wir dabei jedoch selten in den Mund, ja, wir formulieren ihn nicht einmal in unseren Gedanken.

Warum ist das so?

Macht: ein Tabu-Thema?

In den ökonomischen Theorien, die zu meiner Studienzeit an der Universität gelehrt wurden, spielte „Macht“ kaum eine Rolle. Der Ausdruck „Marktmacht“ kam im Zusammenhang mit Monopolen vor, doch in den meisten Modellen, die wirtschaftliche Vorgänge abbilden sollen, war Macht als Variable nicht vorhanden. In meiner beruflichen Praxis habe ich, wie viele andere fleißige Menschen auch, dem Faktor Macht lange Zeit keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich glaubte, dass Leistung für sich spräche, und man sonst nichts zum beruflichen Weiterkommen brauche. So wie ich damals denken viele ehrliche, rechtschaffene Menschen, und meist täuschen sie sich gewaltig. Das Negieren von Machtstrukturen und Machtmechanismen rächt sich spätestens dann, wenn man von einem oder einer „Machtkundigen“ ausgebremst wird.

Ist Macht böse?

Die Vernachlässigung der Komponente „Macht“ hat ohne Zweifel auch damit zu tun, dass sie im Bewusstsein vieler Menschen nicht positiv konnotiert ist. „Machtmensch“, „Machtstreben“, „Machtgier“ oder gar „Machtmissbrauch“ sind negativ besetzte Begriffe. Die meisten gesetzlichen Regulierungen sind darauf ausgerichtet, die Macht Einzelner oder bestimmter Gruppen einzuschränken. Von Macht als Gestaltungsinstrument ist weitaus seltener die Rede, und so wird Macht in weiten Kreisen (insbesondere „guter“ Menschen) gewissermaßen zu einem Tabuthema.

Ohne (Gestaltungs-)Macht geht es nicht

Ohne formale Macht geht es aber nicht. Führungskräfte in Politik und Wirtschaft brauchen Macht um ihre Entscheidungen um- und durchzusetzen. Macht, gepaart mit Verantwortung, ist in der Verfassung von Unternehmen und Institutionen festgeschrieben und ist essenziell für deren Funktionieren.

Wie manifestiert sich Macht?

Neben der formal festgeschriebenen Macht, die eine Position mit sich bringt, kann sich Macht aber auch durch weitere Faktoren manifestieren, zum Beispiel durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder zu einer Organisation (es müssen nicht unbedingt die Freimaurer sein), oder aber durch persönliche Merkmale wie Charisma, Intelligenz oder Eloquenz, durch Alter und Erfahrung, durch die Körperhaltung, durch Details oder durch die Gesamtheit der äußerlichen Erscheinung, und zusätzlich auch noch durch Bilder, die andere Menschen – Kolleg:innen oder Mitarbeiter:innen – auf jemanden projizieren. Anzugträgern wird, so zeigen Studien, automatisch mehr Autorität zugeschrieben als jemandem, der leger gekleidet ist. Sieht jemand in der Chefin die gestrenge Frau Mutter oder im Chef den übermächtigen Vater, so stellt dies einen zusätzlichen Machtfaktor im Verhältnis zwischen den beteiligten Personen dar, der allein einer persönlichen psychologischen Konstellation geschuldet ist.

Nicht nur Chef:innen haben Macht

In ihrem jeweiligen Wirkungsbereich sind die verantwortlichen Führungskräfte tatsächlich mächtig, da sie Strukturen gestalten und im Alltag Anordnungen treffen können. Allmächtig sind sie aber nicht. Es gibt nämlich Facetten von Macht, die keine formelle Grundlage haben, und dennoch bedeutend sind. So haben auch Untergebene (und ich benutze jetzt mit Absicht dieses Wort) Macht, und meist mehr, als ihnen bewusst ist. Abgesehen von der Macht der Belegschaft, die mit der institutionalisierten betrieblichen Interessensvertretung, also dem Betriebsrat, einhergeht, gibt es Machtfaktoren, die auf der persönlichen Ebene wirksam werden. Ich kenne einen Chef, der sich insbesondere in Personalfragen immer wieder Rat bei seiner lebenserfahrenen Sekretärin holt. Ich habe eine Putzfrau erlebt, die den gefürchteten Chef schon als Lehrling gekannt hatte, ihn weiter mit Du ansprach und ihm die Leviten las, wenn er etwas tat, was ihr nicht gefiel – so beispielsweise, wenn er unfreundlich zu seinen Mitarbeiter:innen war. Die Vorzimmerdame, deren Gunst man sich erarbeiten muss, um einen Termin beim Chef zu bekommen, ist sowieso legendär. Mitunter sind Mitarbeiter:innen aber auch deshalb mächtig, weil sie über firmeninternes Wissen verfügen, von dem niemand will, dass es an die Öffentlichkeit gelangt. An diesen und ähnlichen Beispielen zeigt sich, dass Macht viele Gesichter haben kann.

(Kleiner Tipp für Mitarbeiter:innen: Es lohnt sich allemal, sich – eventuell mithilfe eines Coachs – vor Augen zu halten, wo man über (persönliche) Macht verfügt, und wie sie sie gegebenenfalls nutzen kann. )

Formen von Macht

Auch in den Business-Alltag schleichen sich oft Formen der Machtausübung ein, die eigentlich nicht in die Logik geschäftlicher Beziehungen gehören, sondern anderen Lebensbereichen „entlehnt“ sind, wie etwa Tränen, Appelle an das Mitgefühl oder das soziale Gewissen von Vorgesetzten. Auch Erotik und Sexappeal können als Machtfaktoren zum Einsatz kommen. Der Rückgriff auf solche „systemfremde“ Mittel ist aber generell eine zweischneidige bis heikle Sache. So mag eine tränenreiche Performance für den Moment wirksam sein und helfen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Führungsqualitäten werden Personen, die zu solchen Mitteln greifen, eher nicht zugeschrieben. In Fällen, in denen Sex oder persönliche Abhängigkeiten ins Spiel gebracht werden, ist die Grenze zum Missbrauch fließend.

Missbrauch von Macht

Es ist immer schlimm, wenn Vorgesetzte ihre Position für die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse missbrauchen, etwa jenem nach Dominanz, nach Huldigung des Egos, nach Ausleben von Launen oder gar nach körperlicher Nähe, die vom Gegenüber unerwünscht ist. Leider ist dies, in Abstufungen, dennoch oft zu beobachten. Dabei verhält es sich meiner Beobachtung nach so: Je schwächer eine Führungskraft in ihrem Ego und ihrer Persönlichkeit ist, umso mehr tendiert sie dazu, Untergebene anzuschreien, herumzukommandieren, kleinzumachen oder für persönliche Dienstleistungen auszunutzen. Vielleicht versuchen solche Vorgesetzte, ohne sich dessen bewusst zu sein, auf diese Weise erlittene Verletzungen der Vergangenheit in sich zu heilen (was natürlich nie gelingen kann). Vielleicht haben sie sich einst sehr ohnmächtig gefühlt, haben sich mühsam hochgearbeitet, und genießen es nun, da sie am Schalthebel sitzen, sich immer wieder ihrer Macht zu versichern. Es versteht sich von selbst, dass ein solches Verhalten einer guten Führungskraft nicht würdig ist.

Den Machtstrukturen Beachtung schenken – besonders für Frauen wichtig

Das Thema Macht ist ein weites Feld, das an dieser Stelle – und im nächsten Beitrag – nur in ein paar wenigen Aspekten behandelt werden kann. Für den Moment nur soviel: Jenen, die sich mit Macht auskennen, brauchen keine weiteren Ratschläge von mir. Allen anderen, die stets betonen, an Macht nicht interessiert zu sein (wohl kaum ein Zufall, dass dies oft Frauen sind), empfehle ich jedoch dringend, sich mit diesem wichtigen Aspekt des Berufslebens auseinanderzusetzen. Vor allem, wenn sie den beruflichen Aufstieg planen, aber auch im Alltag, um Machtstrukturen und das Verhalten von Machtmenschen in ihrer Umgebung besser zu verstehen. Durchschaut man die Machtverhältnisse, kann man Entwicklungen antizipieren, bevor sie einem womöglich schaden. Man findet sich in diversen Schlangengruben besser zurecht.

Ist man erst mal in eine Führungsposition gelangt, macht man sich, gerade als Frau, mit ein bisschen Machtbewusstsein und den dazugehörenden Insignien den Arbeitsalltag um ein gutes Stück leichter.