Diesen Eintrag würde ich mir und der Leserschaft gerne ersparen. Würde ich jedoch die im Folgenden beschriebenen Beobachtungen nicht zur Sprache bringen, wäre der Blick auf die heutige Arbeitswelt ein unvollständiger. Da viele von uns ähnliche Erfahrungen machen, will ich diese Aspekte des Arbeitslebens, die ich mit „Niedertracht“ umschreibe, nicht ausblenden.
Niedertracht ist allgegenwärtig
In den vergangenen Monaten war ich zu privaten Festen eingeladen, zu zwei Hochzeiten und einer großen Feier zu einem runden Geburtstag. Es wurde getanzt, gescherzt und getrunken, und als es gegen Mitternacht ging und im Raum leiser wurde, ergaben sich mit den Tischnachbarn, die ich erst am besagten Abend kennenlernte, Gespräche, die so gar nicht zu der lustigen Fête passten, die wir gerade durchlebt hatten.
Es sei gleichgültig, wie lange er noch aufbliebe, meinte einer meiner neuen Bekannten, ein distinguierter Herr um die Sechzig, denn ohne Tabletten könne er eh nicht mehr schlafen. Auf meine höfliche Nachfrage sagte er, das sei so, seit man ihn, den ehemaligen Finanzleiter eines bekannten Großunternehmens, brutal gemobbt und schließlich kaltgestellt hatte. Man hatte ihn zwingen wollen, auf seine Mitarbeiter:innen Druck auszuüben mit dem Ziel, so viele wie möglich dazu zu bringen, das Handtuch zu werfen und zu kündigen. Als er sich aus moralischen Gründen weigerte, war er selbst dran. Einmal in Fahrt gekommen, erzählte er mir die ganze Geschichte, die die Geschichte einer sozialen „Hinrichtung“ war.
Beim nächsten Fest berichtete eine ehemalige Führungskraft aus einer anderen Branche nach ein paar Gläschen unaufgefordert fast das Gleiche. Er war gerade in gerichtliche Auseinandersetzungen mit seiner Ex-Firma verstrickt, die ihn mittels übler Nachrede losgeworden war, wogegen er geklagt hatte. Seit Monaten zog sich der Prozess hin, und der Ausgang war ungewiss. Die Firma sitzt fast immer am längeren Ast, meinte er resigniert. Er sei bereits mit den Nerven am Ende.
Beim Dritten, einem langgedienten Facharbeiter, war es noch nicht so weit, doch auch er fing, nachdem er ausgiebig mit sportlichen Erfolgen aus seiner Jugend geprahlt hatte, plötzlich an, von Enttäuschung und Angst zu sprechen. Er rechne jeden Tag mit der Kündigung, sagte er. Fachwissen und Loyalität seien heutzutage nichts mehr wert, es ginge nur noch um die Kosten. Für die Firma sei man kein Mensch mehr, sondern nur noch eine Nummer. Die Jungen hätten das bereits kapiert und handelten genauso gleichgültig und skrupellos wie die Firmen. Doch er könne das nicht, und was solle er mit seinen über fünfzig Jahren machen, wenn er den Job verliert?
Mit dem Feiern war’s ab da vorbei. Wie groß musste der innere Druck dieser Menschen sein, dass sie mir, einer Unbekannten, selbst in einem solchen Rahmen so etwas erzählten, dachte ich erschüttert, doch leider fügte sich das, was in geselliger Runde berichtet wurde, ins Bild, denn auch ich hatte schon einige Erfahrungen zu diesem traurigen Thema gemacht.
Niedertracht in verschiedenen Ausprägungen
Gebrochene Versprechen
Mehrmals habe ich erlebt, dass eine Führungskraft einem oder einer tüchtigen Mitarbeiter:in für die nahe Zukunft eine bestimmte Position in Aussicht stellte, und sie dadurch jahrelang zu Sonderleistungen anspornte. Sie appellierte an Ehrgeiz und Loyalität des/der Mitarbeiter:in und presste ihn/sie aus wie Zitronen. Als die Besetzung anstand, gab man die Stelle dann jemand anderem, und fragte die enttäuschten Mitarbeiter:innen, manchmal sogar voll Hohn, auf welcher Basis sie sich denn Hoffnungen gemacht hätten, wo sie doch zu keinem Zeitpunkt für die Position vorgesehen gewesen waren.
Ideen stehlen und als eigene verkaufen
Ein andermal traute ich meinen Ohren kaum, als mir eine renommierte Wissenschaftlerin empfahl, die Idee eines anderen Teams, das mit uns in Konkurrenz stand, aufzugreifen und damit an die Öffentlichkeit zu gehen bevor die Urheber es selbst taten. Meinen Einwand, dass das doch die Erfindung des anderen Teams gewesen sei, wischte sie mit einem Achselzucken weg. Sie lächelte mitleidig und vermittelte mir das Gefühl, ein naives, kleines Mädchen zu sein, das die Spiele der Erwachsenen noch nicht durchschaut hat.
Putschisten am Werk
Ich habe miterlebt, dass ein Projektteam vom Auftraggeber bei einem Meeting in freundlicher Atmosphäre für seinen Strukturierungsvorschlag hoch gelobt wurde, und gleich nach diesem Termin, von langer Hand geplant, eine Pressekonferenz des Auftraggebers stattfand, in der dieser die Absetzung dieses Projektteams und eine Neubesetzung der Projektleitung verkündete. Das ursprüngliche Projektteam erfuhr davon am nächsten Morgen aus den Medien.
Eifersucht, Neid und Missgunst als Triebfeder niederträchtigen Verhaltens
Ich habe zusehen müssen, wie eine Abteilungsleiterin sich für die Aufnahme einer Mitarbeiterin einsetzte, die sie offensichtlich bewunderte. Als sich diese Mitarbeiterin tatsächlich als exzellenter Profi erwies und dafür von allen Seiten, insbesondere von der Geschäftsführung, Lob erhielt, startete die Abteilungsleiterin, die nun vor Neid, Missgunst und Eifersucht platzte, eine schmutzige Verleumdungskampagne gegen die Mitarbeiterin, die dieser beinahe den Job kostete.
Küsschen, Küsschen und das Messer hinter dem Rücken
Fast harmlos niederträchtig ist hingegen der Usus, Leute, an deren Sesseln man sägt, mit theatralischen Freudenkundgebungen zu begrüßen, ihnen Küsschen auf die Wangen zu drücken, und mit ihnen angeregte Gespräche in freundschaftlichem Ton zu führen, und sich, sobald man sich verabschiedet hat, sogleich wieder ans Sesselsägen und Messerwetzen zu machen.
Psychoterror
Die verdiente Mitarbeiterin eines Konkurrenzunternehmens wurde nach fast dreißig Jahren Firmenzugehörigkeit in die Kündigung getrieben. Der neue Vorgesetzte, der sich mit Einsparungsmaßnahmen profilieren wollte, hatte diese Frau derart unter psychischen Druck gesetzt, dass sie ernsthaft erkrankte. Als sie in ihrer Verzweiflung selbst kündigte, rühmte er sich dafür, dem Unternehmen die hohe Abfertigung, die ihr aufgrund der langen Betriebszugehörigkeit zugestanden wäre, erspart zu haben.
Verrat an Mentor:innen
Eine interessante und häufig zu beobachtende Variante der Niedertracht ist es, Mentor*innen, die einen im beruflichen Fortkommen besonders gefördert haben, ohne jede Skrupel in den Rücken zu fallen, sobald sich eine Möglichkeit dazu ergibt – möglicherweise, um sich Gefühle der Dankbarkeit zu ersparen.
Umstrukturieren um des Profilierens willen
Eine weitere interessante Untugend des heutigen Geschäftslebens, nahe an der Niedertracht, stellt der Umstrukturierungswahn dar, der zahllose Unternehmen und Organisationen in regelmäßigen Abständen erfasst. Umstrukturieren ist heutzutage ein betriebswirtschaftliches Muss, an der kaum eine neu bestellte Führungskraft vorbeikommt. Dabei erschließt sich der Sinn und Zweck dieser Maßnahmen ökonomisch nicht immer. Es ist geradezu abenteuerlich, was insbesondere in großen Konzernen, aber auch in öffentlichen oder halb-öffentlichen Institutionen passiert. Da übernimmt irgendwo, im Tausende Kilometer weit entfernten Headquarters ein neuer Chef, und schon wird umstrukturiert, ohne Rücksicht auf regionale Gegebenheiten. Da werden erfolgreiche Führungskräfte ohne erkennbaren Grund ersetzt. Da werden Abteilungen geschlossen, für die man eben erst hoch qualifizierte Mitarbeiter:innen angeworben hat. Da werden Aufgaben neu verteilt, ohne dass diejenigen, die an der Front arbeiten, den Sinn darin erkennen können. Da werden Beraterfirmen ins Haus geholt, die alles aufmischen und überall Unruhe stiften und die Belegschaft in Angst und Schrecken versetzen. Ein Schelm ist, wer sich dabei gelegentlich fragt, welchen Zweck solche Dauer-Umstrukturierungen wirklich verfolgen.
„Umfärbungen“
In der Politik ist man „Umfärbungen“ im öffentlichen und halb-öffentlichen Sektor nach der Machtübernahme von Parteien geradezu gewohnt und wundert sich nicht weiter, wenn nach Wahlen Köpfe rollen und politisch genehme Personen an die frei gewordenen Stellen rücken. Wie schmutzig solche Rochaden mitunter vonstatten gehen, kann man meist erst vorstellen, wenn man es von Betroffenen persönlich erzählt bekommt. Liest man es nur in den Medien, denkt man kaum an die menschlichen Schicksale, die mitunter dahinterstecken, und an die tiefen Enttäuschungen, die solche Machenschaften mit sich bringen.
Täter-Opfer-Umkehr
Will man jemanden loswerden, legt man ihm/ihr einfach eine „Verfehlung“ zur Last. Ich habe von Personalchef:innen gehört, die jahrelang quasi auf Verdacht „Material“ sammeln, um es dann im entscheidenden Moment gegen die/den Mitarbeiter:in verwenden zu können. So wird etwa ein Mitarbeiter, der auf seiner Reiserechnung ein Mineralwasser aus der Minibar stehen hat, nicht etwa auf den kleinen Irrtum aufmerksam gemacht. Die Rechnung wandert vielmehr in die Lade mit den „Verfehlungen“.
Überfallsartige Entlassungen
Ist es soweit, informiert man die Betroffenen überfallsartig von der Entlassung, nimmt ihnen das Firmenhandy und den Büroschlüssel weg, kappt sie von der Internetverbindung, und fordert sie auf, das Bürogebäude auf der Stelle zu verlassen – manchmal in Begleitung von Mitarbeitern der Security wie in amerikanischen Filmen. Erst kürzlich hat eine solche Aktion in einer honorigen österreichischen Institution Schlagzeilen gemacht. Dass solche Entlassungen meist langjährige Arbeitsrechtsprozesse zur Folge haben, wird von den Unternehmen in Kauf genommen. Die Verlierer dabei sind in Bezug auf ihre Nerven und ihren Ruf fast immer die Geschassten, auch wenn sie nach Jahren des Prozesses Recht (und manchmal auch viel Geld) bekommen.
Erst kürzlich hatte ich Gelegenheit, einen „Putsch“ an der Spitze eines mittelgroßen Unternehmens aus der Nähe mitzuerleben. Es war ein gruseliges Musterbeispiel dafür, wie die Dinge heutzutage mitunter laufen.
Ziel der Aktion war es, den Geschäftsführer los zu werden und jemand anderen an seine Stelle zu setzen. Zuerst setzte man den besagten Geschäftsführer in eben beschriebener Manier ab und engagierte eine Unternehmensberatungsfirma und ein EDV-Unternehmen mit dem Auftrag, irgendetwas zu finden, das auf eine Unregelmäßigkeit hindeuten könnte. Man ließ sämtliche Schriftstücke im Büro sowie Mails und andere elektronische Unterlagen durchforsten um „Brauchbares“ für eine Begründung der Absetzung zu finden, und ein Steuerberater wurde angewiesen, aus ein paar fehlenden Aktennotizen den Eindruck zu konstruieren, es lägen dubiose Geschäftsfälle vor. Letztendlich schreckte man bei der Suche nach Unregelmäßigkeiten, die man dem Geschäftsführer zur Last legen wollte, nicht einmal davor zurück, eine Verwandte, die einer der Drahtzieher des „Putsches“ zufällig persönlich kannte, heimlich auszufragen.
Man konnte in dem konkreten Fall trotz allen Bemühungen keine Verfehlungen entdecken, und so nahm man Zuflucht bei handfester Verleumdung, um dem Opfer zumindest nach außen hin doch noch den Schwarzen Peter umzuhängen. Was immer in der Firma nicht gut gelaufen war, schob man ihm in die Schuhe, obwohl er auf vieles, das dabei ins Treffen geführt wurde, gar keinen Einfluss gehabt hatte – was alle Beteiligten sehr gut wussten, Außenstehende jedoch nicht nachprüfen konnten. Man sprach ihm seine fachlichen Kompetenzen ab, und scheute sich nicht, die angeblichen Verfehlungen in seinem ganzen beruflichen Umfeld zu verbreiten. Die Fakten sprachen gegen sämtliche Behauptungen, doch dem Betroffenen wurde kein einziger konkreter Vorwurf unterbreitet. Man verweigerte ihm das Gespräch und gab ihm keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Als er versuchte, sich gegen den Rufmord zur Wehr zu setzen, drohte man ihm unverhohlen mit Existenzvernichtung. Letztlich saßen jene, die den „Putsch“ inszeniert hatten, am längeren Ast und brauchten schließlich nur zu warten, bis das Opfer zermürbt aufgab.
Die „Putschisten“ bestätigten sich gegenseitig in ihrem Tun und übertrafen sich gegenseitig darin, ihr Opfer zu dämonisieren. Am Ende glaubten sie wahrscheinlich selber, dass sie das Richtige taten.
„Ein Attentat muss tödlich sein“
„Ein Attentat muss tödlich sein“, heißt es in der Machtpolitik. Und da man, wenn man ein Attentat begeht, die engsten Vertrauten am besten gleich mit in den Tod reißt, wurden im beschriebenen Fall auch alle Mitarbeiter:innen, die zu ihrem alten Chef loyal blieben und sich weigerten, in den Verdammungschor einzustimmen, unter allen möglichen Vorwänden gekündigt. Eine Betriebsrätin, die man nicht loswurde, setzte man gezieltem Mobbing aus, bis sie schwer erkrankte und auf Monate arbeitsunfähig war. Nur die Wendehälse, die sogleich bereit waren, die Seiten zu wechseln und sich an der Demontage ihres früheren Chefs (dem einige von ihnen ihren Job zu verdanken hatten) zu beteiligen, durften bleiben. Die „Putschisten“ leisteten ganze Arbeit. Die Säuberungen waren gründlich.
Die Arbeitswelt – ein Kriegsschauplatz?
Wahrscheinlich gibt es kaum jemanden mehr, der nicht die eine oder andere ähnliche Geschichte aus der Arbeitswelt zu erzählen weiß. „Die Arbeitswelt ist zu einem Kriegsschauplatz geworden“, sagt mir mal ein Berater des Arbeitsmarktservice mit langjähriger Erfahrung. Anschwärzungen, Intrigen, Willkürliche Degradierungen, Verleumdung, Verrat, Vernichtung – diese Begriffe, die an schwärzeste Zeiten unserer Geschichte gemahnen, kennzeichnen heutzutage große Teile der Arbeitswelt. „Gut, dass wir nicht in der Nazi-Ära leben…“, habe ich denn auch einmal einen Mitarbeiter betroffen murmeln hören. Mich persönlich verwundert es tatsächlich seit langem, dass der Niedertracht im Arbeitsleben kaum eine politische Dimension beigemessen wird, und dass sie so gut wie nie Thema der öffentlichen Diskussion ist.
Härte oder Niedertracht?
Nicht alles, was hart anmutet, ist Niedertracht. Härte ist im Geschäftsleben manchmal unumgänglich. Jede Führungskraft muss gelegentlich Maßnahmen setzen, die als „unpopulär“ gelten, von unbeliebten Anordnungen aller Art im Alltag bis hin zu Gehaltskürzungen oder gar Kündigungen. Meist bleibt dies aber noch im Rahmen dessen, was zwar hart ist, aber ökonomisch notwendig erscheint.
Niederträchtig sind jedoch Vorgänge wie die geschilderten, wenn aus Machtkalkülen Aktionen gesetzt werden um jemandem vorsätzlich zu schaden, ihn/sie mit unlauteren Mitteln aus ihrer Position zu entfernen oder gar existenziell zu vernichten, und man dabei auch nicht davor zurückschreckt, die psychische und physische Integrität des Opfers zu gefährden oder zu zerstören.
Niedertracht wird salonfähig
In meinen beruflichen Anfängen vor einigen Jahrzehnten habe ich kaum Beispiele für Niedertracht erlebt. Natürlich gab es auch damals in den Führungsetagen problematische Persönlichkeiten, die ihre Position nicht nur zum Lenken und Gestalten nutzten, sondern auch, um ihre persönlichen Machtgelüste zu befriedigen oder sich für Demütigungen, die ihnen in ihrer Kindheit und Jugend zugefügt wurden, schadlos zu halten, indem sie nun andere demütigten. Unter ihren Chefs haben Menschen auch damals gelitten. Was ich im Eintrag „schlechtes Führungsverhalten“ beschrieben habe, gab es wohl zu allen Zeiten.
Dennoch waren die Verhältnisse andere. Zum einen konnte man, wenn es unangenehm wurde, aufgrund der günstigen Arbeitsmarktlage relativ problemlos den Job wechseln. Zum anderen waren schäbige Verhaltensweisen zwar eine Realität, aber sie waren verpönt. „Mobbing“ war noch nicht einmal als Begriff bekannt. Niemand brüstete sich mit Psychoterror, intriganten Strategien oder Hinterlist, zumindest nicht in meinen beruflichen Umfeldern. Dort galten Fairness und Handschlagqualität weithin als Tugenden und nicht wie heute weithin als Ausdruck von Geschäftsuntüchtigkeit oder gar Naivität.
Mit der zunehmenden Durchdringung der Ideologie des Neoliberalismus, also des radikalen Individualismus („Jeder ist seines Glückes Schmied“) und dem absoluten Postulat des Konkurrenzdenkens in allen Lebenslagen änderte sich das Wertegefüge im Geschäftsleben und damit das Verhalten der Menschen. Schranken fallen, Hemmschwellen werden versetzt, Skrupel nehmen ab. Niedertracht ist salonfähig geworden.
Tipps für niederträchtiges Verhalten
Als ich meinen Job antrat, brüstete sich ein selbsternannter Ratgeber mir gegenüber mit einer Reihe von Verhaltensweisen, die er sich, wie er stolz verkündete, angewöhnt hatte, um sich seine Führungsaufgabe zu erleichtern. Gönnerhaft ließ er mich an seinen Erkenntnissen teilhaben und gab mir folgende Ratschläge:
Lassen Sie Ihre Mitarbeiter:innen immer ein bisschen im Unklaren, damit sie sich niemals sicher fühlen. Es beschränkt ihren Spielraum, wenn sie nicht genau wissen, woran sie sind!
Wenn Sie keine klaren Vorgaben machen, haben Sie immer etwas gegen die Leute in der Hand, denn Sie können ihnen jederzeit vorwerfen, etwas falsch gemacht zu haben.
Beschuldigen Sie Ihre Mitarbeiter:innen einfach, und Sie haben sie sofort in der Defensive, egal, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Damit stellen Sie sicher, dass sie nie zu anmaßend werden.
Denken Sie an den Grundsatz: Teile und herrsche. Das lässt sich beispielsweise mit einer systemlosen, nicht leistungsbezogenen und nicht nachvollziehbaren Prämienzuteilung erreichen. Die Leute werden sich in Neid und Eifersucht gegeneinander wenden, kaum jedoch gegen die Geschäftsführung.
Wenn Sie Leute loswerden wollen, und es gibt dabei Hindernisse, weil sie zum Beispiel Mitglieder des Betriebsrats und daher unkündbar sind, zermürben Sie sie so lange, bis sie von selbst aufgeben.
Am besten sei es überhaupt, so riet er mir schließlich, den Leuten immer ein wenig Angst zu machen. Ängstliche Leute regiert man leichter – so fasste er seine Strategie mit einem Satz zusammen.
Ich staunte – vor allem über die Offenheit, mit der er seine niederträchtigen Verhaltensweisen darlegte. Eine solche Unverfrorenheit war für mich neu. Natürlich nahm ich mich in der Folge vor diesem „Kollegen“ in Acht, und nicht nur, weil damit zu rechnen war, dass er mir gegenüber genauso handeln würde wie er mir riet, es mit anderen zu tun.
Ist das neoliberale Wirtschaftssystem schuld?
Ein Wirtschaftssystem, das auf reines (individuelles) Nutzenkalkül setzt, dem Effizienzdenken absoluten Vorrang einräumt, und von einem gnadenlosen Konkurrenzpostulat durchdrungen ist, fördert offensichtlich die schlechtesten Eigenschaften der Menschen zutage. Die Zunahme psychischen Terrors und menschlicher Niedertracht, und die immer weiter um sich greifende stillschweigende Duldung von Rechtsbrüchen in der Arbeitswelt spiegeln die Härte der umfassenden Konkurrenzsituation wider, die dieses Wirtschaftssystem schafft, und in der wir uns alle befinden – Arbeitskräfte wie auch Unternehmen. Die neoliberale Ideologie der letzten Jahrzehnte erweckt dabei den Anschein, dass es im Wirtschaftsleben (und in der gesamten Gesellschaft) keine Alternative zum Kosteneinsparen, zum Auspressen von schwächeren Marktteilnehmer:innen, zum Stellenabbau, zum skrupellosen Kampf Jede/r gegen Jede/n und zur stetigen Demontage von Solidareinheiten und staatlicher Einrichtungen mehr gibt. Gesamtgesellschaftliche Interessen und Umweltschutz sind störende Faktoren beim Profitmachen, während Empathie, Fürsorge oder Solidarität Werte „von gestern“ sind.
Der Großteil der Menschen leidet unter diesen Verhältnissen, doch kaum jemand ist sich dessen bewusst, dass diese nicht vom Himmel gefallen, sondern von Menschen geschaffen sind. Seit Jahrzehnten hören wir, dass es keine Alternative zu diesem Wirtschaftssystem gibt, dessen Mechanismen dargestellt werden als wären sie Naturgesetze. Den wirtschaftlichen Interessen einer Minderheit wird das Wohlbefinden der großen Mehrheit der Menschheit geopfert. Dass damit nicht nur weltweit die ökonomische Ungleichheit zunimmt, sondern auch in einer aufgeklärten und wohlhabenden Gesellschaft wie der unsrigen die schlimmsten Triebe des Menschen zum Vorschein gebracht werden, ist in der Tat befremdlich.
Es liegt auf der Hand, dass solche Tendenzen im Großen nur auf der Ebene der Gesellschaftspolitik verändert werden können. Als Führungskraft kann man sich als Einzelner den ökonomischen Zwängen nicht entziehen. Dennoch ist immer Spielraum vorhanden, sich auch unter den gegebenen Verhältnissen human und fair zu verhalten – und sei es nur dadurch, dass man den Mitarbeiter:innen, selbst wenn man sie kündigen muss, in die Augen schaut und ihnen die Wahrheit sagt.