Ich trete den Job als neue Führungskraft an.
Die berühmten „ersten hundert Tage“ sind nicht nur für neue Regierungen bedeutsam, sondern auch für Leute, die einen neuen Führungsjob beginnen. Der Verlauf dieser Phase, in der es darauf ankommt, auf unbekanntem Terrain möglichst rasch und sicher Tritt zu fassen während man von allen Seiten mit Argusaugen beobachtet wird, hat viel Einfluss auf die zukünftige Positionierung im Unternehmensgefüge. Jedes Wort, jede Geste, jedes Signal hat Gewicht, jeder Schritt will wohlüberlegt sein.
Die ersten Eindrücke prägen das Bild, das sich die Umwelt – Kolleg:innen, Mitarbeiter:innen, Geschäftspartner:innen – von uns macht.
Worauf ist also besonders zu achten?
Die Mentorin berichtet:
Erstmals betrete ich das Bürogebäude meiner neuen Firma. Meine Antennen sind ausgefahren, ich befinde mich auf Dauerempfang. Gleichzeitig zum Aufnehmen gilt es aber auch schon, Präsenz zu zeigen. Auf jeden Fall ist Konzentration jetzt das Um und Auf, denn um eine Schonfrist handelt es sich bei den ersten hundert Tagen im neuen Unternehmen nicht.
Auf unbekanntem Terrain sicher Tritt fassen
Ich gehe mit Selbstvertrauen und Zuversicht in den neuen Job. Man hat mich über einen Headhunter in die Firma geholt. In der langen Geschichte des Unternehmens bin ich die erste Frau im Vorstand. Der Eigentümer ist stolz darauf, ein weibliches Vorstandsmitglied vorweisen zu können. Ich bin also Imageträgerin und werde in der Szene Beachtung finden. Dennoch – oder gerade deshalb – spüre ich viel Verantwortung auf meinen Schultern. Ich muss mich gut schlagen. Ich bin auch ein Role Model für andere.
Meine beiden Vorstandskollegen kenne ich seit Jahren. Wir sind einander immer wieder bei Fachveranstaltungen begegnet. Die Beiden ergänzen sich gut: extrovertiert und kommunikativ der eine, zurückhaltend und tiefgründig der andere. Fast immer treten sie im Tandem auf, ich erinnere mich kaum, einen der beiden jemals alleine getroffen zu haben. Nun stehen wir Drei formal gleichberechtigt nebeneinander. Es wird eine Herausforderung für mich, einen guten Platz in dieser Runde zu finden, und ich bin mir nicht sicher, wie viel Wohlwollen oder gar Unterstützung ich dabei zu erwarten habe. Ich muss wachsam bleiben.
Gemeinsam werden wir das Unternehmen leiten, das etwa 350 Mitarbeiter:innen hat, und in mehrere Subfirmen sowie zahlreiche Abteilungen aufgegliedert ist. Meine neue Firma ist in einer soliden Branche beheimatet. Um den Absatz ihrer Produkte braucht man sich nicht zu sorgen.
Am Anfang lieber ein bisschen „overdressed“
Für mich gilt es nun, einen guten ersten Eindruck zu machen, auch äußerlich. Ich gehe auf Nummer Sicher, habe für heute ein dunkelblaues Kostüm mit einer zartrosa Bluse, farblich passenden Pumps, einer kurzen Gliederkette aus Weißgold gewählt, sodass ich aussehe wie die Business-Lady wie aus dem Bilderbuch. Auch die neue Handtasche passt zu dem seriösen Look, puristisch-elegant geschnitten, in dezentem Ockergelb, Handwerk aus einer alteingesessenen Wiener Taschen-Manufaktur. Seriös und gediegen, so präsentiere ich mich am ersten Tag.
Die beiden anderen Geschäftsführer kommen lockerer daher. Sie tragen modische Sakkos mit Hemd und Krawatte, dazu edle schwarze Jeans. Auch die Mitarbeiter:innen sind, auf allen Ebenen, eher salopp gekleidet. Ich werde mich nach einiger Zeit, was mein Outfit betrifft, legerer geben, denke ich, doch heute, am ersten Tag, bin ich froh über meine formelle Aufmachung. Sie ist ein Statement. Man soll auf den ersten Blick sehen, dass ich die neue Chefin bin. Anzug oder Kostüm wirken immer, wenn es um Position und Ansehen geht, auch wenn es nicht bewusst wahrgenommen wird. Es schadet auch nie, am Anfang auf Formalität und Distanz zu setzen. Lockerlassen kann man später, wenn die Position gefestigt ist, immer noch.
Mitarbeiter:innen kennenlernen
Einer der Vorstandskollegen führt mich durch die Abteilungen und stellt mir deren Leiter:innen vor. Ich schüttle Hände, schaue den Leuten in die Augen, notiere mir am Weg in das nächste Büro Namen und Funktionen in ein kleines Heftchen. Um mir die Menschen möglichst rasch zu merken, halte ich kleine Besonderheiten fest, die mir an Aussehen oder Styling auffallen, oder an der Art, sich auszudrücken – Spuren eines Dialekts aus einem Bundesland zum Beispiel. Ganz von selbst erinnere ich mich an die Kraft eines Händedrucks – ist er fest, bekommt der Mensch (wie im privaten Leben) gleich mal Sympathiepunkte. Ich registriere auch, ob mein Gegenüber lächelt und meinem Blick standhält oder aber rasch zur Seite sieht. Natürlich merke ich mir auch wenn jemand etwas zu mir sagt, was über das übliche “freut mich” hinausgeht.
Es werden mir in der Vorstandsetage ungefähr dreißig Personen vorgestellt. Ich werde in den nächsten Tagen und Wochen sehr aufmerksam bleiben, denn ich halte es für wichtig, die Mitarbeiter:innen bald mit ihrem Namen ansprechen zu können. Meine kleinen Notizen werden mir dabei helfen.
Mein Büro
Dann beziehe ich mein Büro. Der Computer ist aufgesetzt, Laptop und Diensthandy liegen bereit, das Schild an der Tür mit meinem Namen und meiner Positionsbezeichnung ist angebracht. Den Perserteppich und die Ledergarnitur meines Vorgängers habe ich entfernen und durch einen nüchternen Besprechungstisch mit dazu passenden leichten Sesseln ersetzen lassen. Auch der Schreibtisch ist neu, aus hellem Holz, großzügig und über ein Eck geschwungen. Die eingebauten Regale habe ich übernommen wie sie mein Vorgänger hinterlassen hat.
Vorsicht vor „typisch weiblicher Bescheidenheit“
Bewusst stelle ich den Verzicht auf die vollständige Neu-Möblierung, die mir angeboten worden ist, als Beitrag zur globalen Ressourcenschonung dar, damit er nicht als Ausdruck „typisch weiblicher“ Bescheidenheit herüberkommt.
Dem Büro und seiner Gestaltung werde ich mich in einem späteren Eintrag noch einmal etwas ausführlicher widmen.
Wie lange es wohl dauern wird, bis ich „wir“ sage, und von „meinem“ Unternehmen, von „meinen“ Kollegen und „meinen“ Mitarbeiter:innen spreche?
Der erste Tag vergeht schnell.
Muss ich mittrinken um dazu zu gehören?
Am späten Nachmittag, als die meisten schon gegangen sind, laden mich die beiden Kollegen auf einen Willkommenstrunk in ein naheliegendes Lokal ein. Ich nippe an dem Sekt, den einer der Kollegen ordert. Wir tauschen Höflichkeiten aus und bieten einander das Du-Wort an. Beiläufig erwähne ich eine leichte Alkoholunverträglichkeit, die mich befällt, sobald ich mehr als ein halbes Glas trinke. Ich will vorzubauen, möchte nicht, dass dieser After-Work-Umtrunk zum täglichen Ritual wird und will künftigen Trinkrunden überhaupt so weit wie möglich aus dem Weg gehen – was in meiner neuen Branche, wie ich schon ahne, nicht ganz einfach sein wird. Ich weiß auch, dass es ein zweischneidiges Schwert ist, gesellige Zusammenkünfte mit Alkohol zu meiden, weil man sich damit einem Zugehörigkeitsritual entzieht, aber ich setze darauf, dass man es mir als Frau nachsieht.
Abends gehe ich zu einer Branchenveranstaltung. Der Organisator würdigt meine neue Position, hat einen Sitz in der ersten Reihe für mich reserviert und führt mich zu meinem Platz. Ich bleibe noch ein wenig stehen, begrüße Leute, die auf mich zukommen, stelle mich anderen, die mich noch nicht kennen, vor. Wieder Namen und Gesichter. Von den Vorträgen bekomme ich dann nicht mehr viel mit, zu sehr schwirrt mir schon der Kopf.
Persönliche „Schonfrist“ einhalten
Viel Neues ist auf mich eingeprasselt, und es wird in der nächsten Zeit noch mehr werden. Ich werde hinter die Kulissen des Unternehmens und der Branche blicken, Usancen und ungeschriebene Gesetze herausfinden, die wirklichen Machtverhältnisse kennenlernen, Subkulturen und Netzwerke identifizieren und die Informationen in die innere Landkarte, die ich vom Unternehmen und der Branche im Kopf habe, einfügen. Ich werde mich an neue Orte gewöhnen, werde neue Routinen entwickeln. Ich trage der Anstrengung der kommenden 99 Tage Rechnung, indem ich mir in dieser Zeit nichts Weiteres zumute, auch keine zusätzlichen privaten Verpflichtungen. In dieser außergewöhnlichen Zeit des Einlebens genügt es, wie ich finde, in die Arbeit zu gehen und sich danach auszuruhen.
Bevor der Tag zu Ende geht, setze ich mich hin und schreibe, wie es meine Gewohnheit ist, in mein Journal. Ich rekapituliere, ich analysiere und fange an, mir jene Notizen zu machen, die die Grundlagen für das bilden, was auf den nächsten paar Hundert Blog-Seiten zu lesen sein wird.
Tipp der Mentorin:
Das Wichtigste für die allererste Zeit im neuen Unternehmen scheint mir zu sein, sich durch Outfit und Verhalten so zu präsentieren, wie man selbst wahrgenommen werden will, denn der erste Eindruck setzt sich im Bewusstsein der anderen fest und ist später schwer zu „übermalen“.