Wir alle haben schon mal über die öffentliche Verwaltung und ihre bürokratische Behäbigkeit gestöhnt. Wir alle hören von Wissenschaftler:innen, die mit ihren Theorien im Elfenbeinturm leben und mit der Wirklichkeit nicht zurechtkommen. Über die Unternehmerschaft „weiß“ man, dass diese immer nur den eigenen Gewinn im Auge hat und einen ständig über den Tisch zu ziehen versucht. Misstrauen gegenüber Politiker:innen, die stets nur auf die nächsten Wahlen schielen, ist weit verbreitet.
Unterschiedliche Systemlogiken führen zu Missverständnissen
Die Behörde bringt einen mit ihrer Bürokratie an den Rand der Verzweiflung, die Unternehmer verlangen viel zu hohe Preise, Politiker:innen reden stets an der Frage der Journalist:innen vorbei, was die Wissenschaft sagt, versteht man ohnehin so gut wie nie, die Lehrerschaft hält die Schule für das Universum, Künstler:innen überschreiten systematisch alle Grenzen, und so weiter. Bekommen es Akteur:innen aus den verschiedenen Sphären miteinander zu tun – und das ist für uns alle so gut wie jeden Tag der Fall – sind Konflikte vorprogrammiert. An den Schnittstellen der einzelnen gesellschaftlichen Systeme – Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst, usw. – machen die Akteur:innen einander das Leben schwer. Und die gegenseitigen Schuldzuweisungen nehmen kein Ende.
In Wirklichkeit ist jedoch niemand schuld. Es prallen nämlich nicht Menschen aneinander, sondern die unterschiedlichen Funktionslogiken der unterschiedlichen Systeme. Was ist damit gemeint?
Systemkonformes Handeln sichert das Überleben
Nehmen wir mal den Unternehmer oder die Unternehmerin. Die müssen rasch und flexibel auf Marktentwicklungen reagieren um am Ball zu bleiben und brauchen Entscheidungen daher stets schnell und möglichst unbürokratisch – auch von der Bürokratie. Unternehmer:innen treffen Entscheidungen „aus dem Bauch“ heraus und müssen deren Zustandekommen weder begründen noch dokumentieren. Was für Unternehmer:innen zählt, ist allein der (in Geld) messbare Erfolg.
Im Gegensatz wäre es für Mitarbeiter:innen der öffentlichen Verwaltung nicht wirklich angebracht, bei Entscheidungen ihrem „Bauchgefühl“ zu folgen. Die gesamte öffentliche Verwaltung ist an Verfahrensvorschriften gebunden und muss – im Interesse der Allgemeinheit – jeden Verfahrensschritt, den sie setzt, festhalten, damit er für alle nachvollziehbar bleibt. Von der öffentlichen Verwaltung wird Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit erwartet, und daher muss sie regelkonform, beständig und bewahrend arbeiten, und zwar über einen längeren Zeitraum als nur ein paar Wochen oder Monate. Eine Behörde darf nicht ohne festgelegtes Verfahren heute diesen und morgen einen anderslautenden Bescheid ausstellen, nur weil sich die Verhältnisse kurzfristig geändert haben. Es ist daher nur folgerichtig, dass die Mühlen der öffentlichen Verwaltung langsamer mahlen und nur selten dem bösen Willen von Beamt:innen geschuldet.
Die Leute aus der Wissenschaft wiederum sind gemäß der Funktionslogik ihres Systems allein dem Erkenntnisgewinn verpflichtet und brauchen sich – außer es handelt sich um ethische Fragen – nicht darum zu kümmern, ob und wie ihre Erkenntnisse in der Praxis umgesetzt werden.
Und Politiker:innen sollten, wollen sie nicht abgewählt oder abgesägt werden, wohl grundsätzlich bei ihren Prinzipien bleiben, müssen gleichzeitig aber auf Stimmungslagen reagieren, und bei allem, was sie sagen oder tun, den Zustimmungsgrad der Wählerschaft und die mediale Wirkung im Auge haben.
Und so weiter.
„Quereinsteiger“ scheitern oft
Was hier nur ganz kurz und rudimentär angerissen wird, ist in soziologischen Theorien und Konzepte ausführlich und überzeugend dargelegt. Als ein praktisches Beispiel für die Wirkung unterschiedlicher Systemlogiken kann man die sogenannten Quereinsteiger:innen in die Politik betrachten. Da zeigt es sich nur allzu oft, wie kläglich überaus tüchtige und erfolgreiche Manager:innen oder Wissenschaftler:innen scheitern, wenn sie in das fremde System Politik, „quer“ einsteigen.
Für unserem Kontext ist es wichtig zu verstehen, dass unser jeweiliges Gegenüber aus dem anderen System mit ziemlicher Sicherheit nicht unfähig oder bösen Willens ist, sondern einfach systemkonform agiert, und wir, wären wir an seiner/ihrer Stelle, genauso handeln würden. Es hilft im geschäftlichen Umgang sehr, sich dieser Tatsache bewusst zu sein.
Erfahrungen beim Wechseln von Systemen
Ich bin in meiner Berufslaufbahn mehrmals von einem System zu einem anderen gewechselt. Ich habe meine Karriere in der Forschung begonnen und mir ganz selbstverständlich Zugänge und Traditionen angeeignet, die dort das System prägen. Bis heute gehe ich analytisch wie eine Forscherin an jede Problemstellung heran, und auch der Drang, mein Wissen zu teilen, ist mir immer noch zu eigen, weil dies in der Forschung, also meinem „Stammmilieu“ ein wichtiges Prinzip ist.
Beim Wechsel in andere Systeme habe ich gute und verstörende Erfahrungen gemacht und bin auch in das eine oder andere Fettnäpfchen geraten. Der analytische Zugang hat sich in allen Systemen bewährt, daher habe ich ihn bis heute beibehalten. Mit der freizügigen Teilung von Wissen ist es schon ein wenig komplizierter, denn so gut wie in allen anderen Systemen gilt Wissen als Machtfaktor oder als Geschäftsvorteil, mit dem man lieber nicht allzu großzügig umgehen sollte.
Letzteres habe ich erstmals erfahren, als ich, neu im politischen Umfeld, wie gewohnt in einer Sitzung ein Thesenpapier zur Verteilung brachte, das ich im Vorfeld erstellt hatte. Ich ging davon aus, dass es, wie ich es aus der Forschung gewohnt war, als Unterlage für die kommende Diskussion willkommen war, und war höchst erstaunt, als es im Gegenteil zu großem Unmut führte. Erstens hätte ich, so erfuhr ich rüde, in Beachtung der Machtverhältnisse, die Verteilung des Papiers der Sitzungsleiterin überlassen müssen. Und zweitens durfte ein Papier überhaupt erst auf den Tisch kommen, wenn es abstimmungsreif war. Sonst könnte es ja so aussehen, als wolle ich Entscheidungen vorwegnehmen, und wo käme man da hin! So lernte ich, dass etwas, was in meinem alten System gewürdigt worden wäre, im neuen System ein No-Go ist.
Einen noch schlimmeren Faux pas beging ich während meines kurzen Ausflugs in einen Bereich der öffentlichen Verwaltung. Dort habe ich einmal einen Stapel Papier, der wochenlang, von irgendwoher kommend, auf meinem Tisch gelandet war und mir nutzlos erschien, in den Papierkorb geworfen. Als dann doch jemand danach fragte, und ich wahrheitsgemäß angab, wo er geblieben war, war die Beamtenschaft rund um mich herum nur noch sprachlos. Es war ein Akt gewesen, ein quasi sakrosanktes Dokument. Ein solches einfach wegzuwerfen war ein derartig abartiges Vergehen, das man dafür keine Worte fand. In den Augen der Beamten konnte so etwas nur einer Verrückten einfallen.
In beiden Beispielsfällen habe ich mich als „Systemfehler“ erwiesen. Noch nicht im neuen Milieu angekommen hatte ich stattdessen weiter in der Logik eines anderen Systems gehandelt.
Varianten von „Systemfehlern“
Es gibt noch andere Varianten von „Systemfehlern“. Eine davon ist der bereits an anderer Stelle zitierte Mitarbeiter, der in gutem Glauben ein eingespieltes Korruptionssystem, von dem seine Firma im Ausland seit langem profitierte, beinahe zu Fall gebracht hätte. „Systemfehler“ sind auch Menschen, die sich in einem machtorientierten System nicht um die Machtstrukturen kümmern, und meinen, dass es stets nur um Authentizität und um „die Sache“ geht. Auch jene „Unbestechlichen“, die man weder mit Geld noch mit Position locken kann, werden in manchen Milieus als „Systemfehler“ angesehen, weil man ihrer nicht habhaft wird, und sie in keine Abhängigkeiten hineinziehen kann.
Ein „Systemfehler“ war auch einst der Nationalspieler Walter Schachner, der sich 1982 bei dem WM-Spiel gegen Deutschland, das als „Schande von Gijon“ in die Fußballgeschichte eingegangen ist, als Einziger nicht an den „Nichtangriffspakt“ der beiden Mannschaften gehalten hat, und damit beinahe die schändliche Vereinbarung der beiden Teams zu Fall gebracht hätte.
Gemeinsam ist den „Systemfehlern“, dass sie die Spielregeln des Systems, in dem sie sich gerade befinden, nicht verstehen (wollen). Sie gelten daher, zu Recht oder zu Unrecht, als unberechenbar und als latente Bedrohung. Sie gehören nicht dazu und werden nicht selten von den anderen, die die Spielregeln des Systems intus haben, heftig bekämpft.
Letzteres ist mir zum Glück nicht passiert, weil ich – der analytische Forschergeist lässt grüßen – über systemtheoretische Grundkenntnisse verfüge und es überdies auch immer geschafft habe, mich so weit ans neue System und seine Regeln anzupassen, dass ich nach einiger Zeit nicht mehr aus dem Rahmen gefallen bin.
Ein bisschen Systemtheorie schadet nicht
Heutzutage, da man in der Berufswelt viel häufiger den Job, die Branche und auch das System wechselt als früher, scheint es jedenfalls sinnvoll, sich mit der Problematik von Systemlogiken ein wenig zu befassen. Man muss ja nicht gleich die akademischen Systemtheorien studieren um sich zurechtzufinden, aber mit ein wenig Einsicht in die Funktionslogik und der sich daraus ergebenden Kultur des jeweiligen Systems macht man sich und seiner Umgebung das Leben mit Sicherheit ein wenig leichter.