Wer die Gruppendynamik in einer Firma verstehen will, soll Beobachtungen in einem Kindergarten machen, hörte ich mal einen erfahrenen internationalen Manager sagen.
Da ich schon lange im Berufsleben bin, ahne ich, was er meint. Schon oft habe ich den Verdacht gehabt, dass hinter befremdlichem Verhalten von Mitarbeiter:innen, Kolleg:innen und Vorgesetzten (und, selbsterkennend angemerkt, nicht zuletzt auch von mir selbst), obwohl es schein-rational daherkommt, in Wirklichkeit der Ausdruck einer verängstigten oder verletzten Kinderseele steckt.
Ist die Firma wirklich ein Kindergarten?
Die Mentorin berichtet:
Im neuen Unternehmen bekomme ich alsbald ein paar Kostproben ab. Man liefert sich Machtproben mit der neuen Chefin.
Auch in der Schule haben wir bei jedem neuen Lehrer – und noch mehr bei neuen Lehrerinnen – ausprobiert, wie weit wir gehen konnten. Als Lektorin habe ich selbst an der Universität mit den Studienanfänger:innen Jahr für Jahr dieselben kleinen Machtproben erlebt. Obwohl schon erwachsen, haben die Studenten (weniger die Studentinnen) in pubertärer Manier zu Beginn des Semesters ausgetestet, was die Frau Lektorin durchgehen lässt und was nicht.
Nun machen es einige meiner Mitarbeiter:innen ähnlich. Ich erlebe Szenen wie diese:
Zufällig bemerke ich, dass im Besprechungsraum neben meinem Büro der Vorrat an Kaffeekapseln zu Ende geht. Die zuständige Mitarbeiterin hat wohl übersehen, dass die letzte Kapsel bald verbraucht sein wird. Ich will ihr Ärger ersparen, rufe sie kurzerhand an und melde den Bedarf. Tags darauf bemerke ich, dass nun gar kein Kaffee mehr im Besprechungsraum ist. Ich lasse nachfragen. Die Sekretärin eruiert, dass die betreffende Mitarbeiterin den Kaffee in die Poststelle gelegt hat – mit der patzigen Anmerkung, es werde der Frau Chefin schon keine Zacke aus der Krone fallen, wenn sie sich den Kaffee von dort hole.
Die Mitarbeiterin ist eine ältere Frau, der es offenbar widerstrebt, einer Frau, Vorgesetzte hin oder her, „zu Diensten“ zu sein – selbst wenn es sich, wie in diesem Fall nicht einmal um Kaffee für mich handelt, sondern für Gäste der Firma. Mit der Versorgung der beiden männlichen Vorstandskollegen hat sie selbstverständlich kein Problem. Ich zitiere sie zu mir und stelle sie, in Anwesenheit eines Betriebsrats vor zwei Alternativen: entweder ihren Job ordentlich zu machen oder ihre Sachen zu packen. Ich füge hinzu, dass ich täglich an die zehn Bewerbungen von Leuten bekomme, die froh wären, den Kaffee überall hin zu bringen, wenn sie nur einen Job bekämen. Kleinlaut entschuldigt sie sich und gelobt, solche Spielchen in Zukunft zu unterlassen.
Dann organisiere ich einen gesundheitsbezogenen Fachvortrag für die gesamte Belegschaft, der in der Dienstzeit stattfindet. Ein paar Tage vorher treffe ich eine Mitarbeiterin zufällig am Gang. Sie steht dort an die Wand gelehnt, pafft an ihrer Zigarette und lässt mich en passant wissen, dass sie wegen privater Verpflichtungen nicht zum Vortrag kommen werde. Ein anderer Mitarbeiter, ein Abteilungsleiter, bleibt dem Vortrag unentschuldigt fern.
Ich lasse beide zu mir holen und frage sie in freundlichem Ton, ob sie es auch in ihrem Privatleben so halten, dass sie Einladungen einfach ignorieren, und falls nicht, warum dann in der Firma? Beiden ist es sichtlich peinlich.
Für mich entscheide ich, fürs erste keine “Einladungen” mehr auszusprechen, sondern nur noch “Dienstanweisungen”.
Eine dritte Machtprobe ist ernster, und ich werde wohl nie erfahren, ob sie einem Persönlichkeitsproblem der Mitarbeiterin entsprang, oder aber inszeniert wurde, um eine Kündigung zu provozieren: Die Mitarbeiterin verweigert aus scheinformalen Gründen das jährliche Mitarbeitergespräch, auf das wir uns mit dem Betriebsrat fürs ganze Unternehmen geeinigt haben. In der Ahnung, dass etwas Unausgesprochenes dahintersteckt, rufe ich sie an und frage sie, warum sie das tue, wo wir doch beide wüssten, dass sie etwas vorschiebt. Frau S., eine intelligente Person, versteht, stellt jedoch auf stur und beharrt weiter auf ihrem an den Haaren herbeigezogenen Formalargument. Ich versuche es noch zweimal im Guten, doch dann lässt sie mir keine andere Wahl: Ich drohe ihr die Kündigung an. Sie lenkt immer noch nicht ein und lässt es tatsächlich darauf ankommen. Weder der Betriebsrat noch der Aufsichtsratsvorsitzende, an den sich Frau S. wendet, legen ein Veto gegen die Kündigung ein.
Und noch mehr Psychologie…
Neben der Konfrontation mit Machtproben aller Art finde ich mich alsbald auch in anderen psychologischen und gruppendynamischen Verstrickungen des Unternehmensalltags wieder.
Ich muss wohl ein wenig angestrengt gewirkt haben in den ersten Wochen. Ich hätte immer so böse geschaut, sagt mir eine Mitarbeiterin ein halbes Jahr später bei einem Mitarbeitergespräch. Eine zweite wirft mir beim ersten Betriebsausflug nach ein paar Gläsern Wein vorwurfsvoll hin: Sie mögen mich nicht! Auch sie sagt, ich hätte sie unfreundlich angeblickt.
Ich bin perplex, gelte ich doch gemeinhin als überaus freundliche Person. Mehr noch: Freundlichkeit ist quasi mein Markenzeichen. Unter den Mitarbeiter:innen, die mit uns am Tisch sitzen, entspinnt sich eine Diskussion. Bald meinen sie, den Kern der Sache getroffen zu haben. Sie übertrage eigenes Unbehagen auf mich, die Chefin, sagen sie psychologisierend zu ihrer Kollegin. Ein paar Tage später kommt die Frau zu mir und räumt ein, dass es wohl tatsächlich so sei. Sie habe gehört, dass Kündigungen im Raum stünden, und aufgrund ihres Alters befürchtet, eine der ersten zu sein, die es treffen wird. Ich versichere ihr, dass von Kündigungen keine Rede ist, und dass zweitens etwaige „böse“ Blicke ganz sicher nicht ihr gegolten haben. Ich habe sicher nicht “böse” geschaut, sage ich, sondern wahrscheinlich nur ein wenig angespannt – immerhin war ich neu in dem Job und musste mich den ganzen Tag lang konzentrieren.
Die andere Mitarbeiterin, die mir unfreundliche Blicke unterstellt hat, meint im Zweiergespräch, ich erinnere sie an ihre Tante, vor der sie sich stets gefürchtet habe.
Dann erlebe ich eine andere interessante Episode. Zur Faschingszeit kaufe ich eine Riesenmenge Krapfen, stelle sie in einen zentralen Besprechungsraum und bitte die Sekretärin, an alle Mitarbeiter:innen ein Mail mit der Einladung zu schicken, sich zu bedienen. Am Nachmittag treffe ich eine Mitarbeiterin der Verkaufsabteilung zufällig am Gang. Bitterlich beschwert sie sich, dass bereits alle Krapfen weg gewesen waren, als sie endlich Zeit gehabt hatte, sich einen zu holen. Mit vorwurfsvollem Blick steht sie da wie ein Kind, das von seiner Mama ungerecht behandelt wurde. Selbstverständlich bringe ich am nächsten Morgen neue Krapfen direkt in die ihre Abteilung.
Als nächstes höre ich eine etwa fünfzigjährige Mitarbeiterin über ihren jungen Chef klagen. Seit er Vater geworden ist, kümmert sich ja gar nicht mehr um uns, sagt sie vorwurfsvoll.
Ein Techniker in seinen Vierzigern trotzt wochenlang herum wie ein kleines Kind. Auf Nachfrage erklärt er, dass er auf mich „beleidigt“ sei, weil ich nach meinem Kurzurlaub nicht in seiner Abteilung vorbeigeschaut hätte.
Ein anderer Abteilungsleiter legt uns wiederholt Kündigungsschreiben auf den Tisch, um uns, seinen Vorgesetzten, auf dramatische Art vor Augen zu führen, wie unabkömmlich er ist, und was wir verlieren würden, ginge er tatsächlich. Er tut dies mit Vorliebe in Phasen, in denen auf Hochdruck gearbeitet werden muss, und fällt aus allen Wolken als wir eines Tages seine Drohungen leid sind und seine Kündigung annehmen.
Die Sammlung solcher Anekdoten könnte noch seitenweise fortgesetzt werden.
Was spielt sich hier ab?
Projektionen und Übertragungen
Es sind Projektionen, sagt meine Frau Coach. Projektionen finden überall statt, wo Menschen zusammenkommen. Wir nehmen andere Menschen durch die Brille unserer Bedürfnisse, Erfahrungen, Ängste, wahr, bzw. sehen an ihnen vor allem, was in unsere innere Landkarte passt. Wir sind von unseren Erfahrungen geprägt, und wenn uns jemand an eine sympathische Figur aus der Kindheit erinnert, werden wir ihn/sie mögen ohne zu wissen, warum, und umgekehrt ebenso unbewusst Abneigung verspüren, wenn die Erinnerung eine negative ist. Springt der Übertragungsmechanismus an, begeben wir uns quasi automatisch in die Rolle, in der wir in der Ursprungskonstellation waren und schreiben dem heutigen Gegenüber eine entsprechende Rolle aus unserem früheren Leben zu – ohne dass das arme Gegenüber davon auch nur das Geringste davon ahnt.
Manche Mitarbeiter:innen, sagt die Frau Coach, fühlen sich von ihren Vorgesetzten emotional ähnlich abhängig wie einst als Kinder von Vater oder Mutter. Sie achten penibel auf deren Mimik, überinterpretieren Wortwahl und Gestik und beziehen alles, was die Vorgesetzten sagen oder tun, auf sich. Andere schreiben der Chefin die Rolle der strengen Lehrerin zu, gegen die man aufmotzen muss. Oder dem Chef jene des autoritären Vaters, vor dem man sich entweder duckt, oder gegen den man revoltiert. Vorgesetzte können – oftmals nur durch Blicke – Lob und Tadel verteilen, ermutigen oder verurteilen, oder aber den Mitarbeiter:innen viel oder eben keine Beachtung schenken. Geschieht Letzteres, dann kann dies Gefühle von Trauer und Verzweiflung wiedererwecken, die man einst als Kind hatte, wenn Mama oder Papa sich abgewandt haben.
Wiederholen sich bekannte Muster (wenn auch nur in der Phantasie der Beteiligten), dann ist die alte Angst, die man einst vor diesen Autoritäten hatte, sogleich wieder präsent, und man reagiert genauso wie man es einst als Kind tat: verängstigt, traurig, trotzig.
Übertragen wird nicht nur auf einzelne Personen, sondern auch auf Strukturen. Ein hierarchisches Gefüge wie einer Firma erinnert an hierarchische Verhältnisse in der Familie oder in der Schule. Erfahrungen, die man dort mit den Eltern oder mit Lehrpersonen gemacht hat, übertragen sich dann leicht auf Chefin oder Chef, im Guten wie im Schlechten.
In unserem Unternehmen sind bestimmte Projektionen aufgelegt wie ein Elfmeter im Fußball: Es dauert nicht lange, bis ein Vorstandskollege und ich von der Belegschaft als Führungspaar gesehen werden. Wir sind ungefähr im selben Alter, strahlen Erfahrung und Souveränität aus und repräsentieren damit ein Bild, das jede und jeder von klein auf kennt. Eine solche „Eltern-Konstellation“ komme praktisch einer Einladung zum Projizieren gleich, meint die Frau Coach, wir sollten uns dessen bewusst sein. Und tatsächlich erleben wir in den Jahren unserer Zusammenarbeit dann auch so einiges aus dieser Kategorie.
Es sei eine Tatsache, dass sich Gefühle der Menschen durch das Erwachsenwerden nicht verändern, sagt Frau Coach. Der Unterschied sei nur, dass Erwachsene andere Ausdrucksweisen zur Verfügung haben als Kinder – sofern ihre Persönlichkeit halbwegs gereift ist. Viele sind nicht gereift und benehmen sich auch als Erwachsene wie kleine Kinder.
Wie alle projizieren, genauso wie wir alle Vorurteile haben. Die entscheidende Frage ist, in welchem Ausmaß Vorurteile und Projektionen unser Verhalten steuern, und vor allem, wie bewusst wir uns ihrer sind.
Auch ich war mal ein Trotzkopf
Während der Ausführungen der Frau Coach erinnere ich mich amüsiert an meine eigenen Anfänge in der Berufswelt und bin daher geneigt, ein gewisses Verständnis für die „Kinder“ in der Firma aufzubringen, zumal für die jüngeren. Auch ich habe einst getrotzt und geschmollt, wenn ein Chef sich wie ein Chef und nicht wie ein guter Papa verhalten hat.
In jungen Jahren hat Schmollen ja auch oft zum gewünschten Ergebnis geführt. Wer sich jedoch auch in fortgeschrittenem Alter noch kindlich oder wie ein aufmüpfiger Teenager benimmt, gibt sich selber schlechte Karten und läuft Gefahr, nicht für voll genommen zu werden. Menschen, die sich unerwachsen verhalten, werden von ihren Vorgesetzten auch nicht für Führungspositionen in Aussicht genommen.
Will ich als Vorgesetzte diese Art von Macht überhaupt haben?
Will ich die Macht, die mir die „Kinder“ in der Firma verleihen, indem sie in mir nicht nur die Chefin, sondern gleichzeitig auch die Mama, die große Schwester, die Lehrerin, usw. sehen, überhaupt haben?
Wäre ich eine böse Vorgesetzte, könnte ich diese Macht missbrauchen und die Mitabeiter:innen gezielt manipulieren. Ich habe leider tatsächlich Chef:innen beobachtet, die an schwarze Pädagogik gemahnende Machtmittel eingesetzt und ihre Mitarbeiter:innen damit „erfolgreich“ eingeschüchtert haben.
Den meisten Chef:innen tut man mit Projektionen dieser Art, die oft an Unterstellungen grenzen, jedoch sicher Unrecht. Reife Vorgesetzte wollen keine kleinen Kinder um sich haben, sondern erwachsene Menschen.
Wie kann man Übertragungen vermeiden?
Vermeiden kann man derartige Psycho-Mechanismen wohl kaum, doch sollten Führungskräfte die innere Sicherheit haben zu spüren, wenn etwas abläuft, das mit der gegenwärtigen Situation nichts zu tun hat. Führungskräfte sollten imstande sein, unangemessene Rollen, die ihnen in Inszenierungen von Mitarbeiter:innen zugeteilt werden, zu erkennen und entschieden zurückzuweisen.
Wie löst man eine Übertragungssituation und andere psychische „Dramen“ auf?
Manchmal reicht es zu sagen: Hören Sie, ich bin nicht Ihre Mutter! In anderen Fällen kann man sich auf die Metaebene begeben und die Mitarbeiter:innen (oder auch gleichrangige Kolleg:innen, von denen ja auch noch etliche in den Kinderschuhen stecken), fragen, ob sie bemerken, was sie da gerade tun. Der Schwenk auf die Meta-Ebene, ein tiefer Blick und die Frage „Worum geht’s denn wirklich?“ wirkt manchmal Wunder. Oder man erklärt, wie das Verhalten von außen wahrgenommen wird und weist darauf hin, dass die Firma nicht der geeignete Ort ist, um alte Konflikte immer wieder neu auf die falsche Bühne zu bringen.
Allerdings funktioniert diese Strategie nicht immer. Einmal wollte ich einer Mitarbeiterin, die in einen Konflikt mit einer Kollegin verstrickt war, raten, loszulassen, und habe dafür das Gleichnis von dem Affen verwendet, der dadurch gefangen wird, dass er durch ein Käfiggitter nach einer Banane greift. Er bräuchte die Banane nur loszulassen um seine Hand durch die Gitterstäbe ziehen zu können und wieder frei zu sein. Ich fand das Gleichnis treffend, doch die Mitarbeiterin sah mich verständnislos an und fragte: Wollen Sie mir sagen, dass ich ein Affe bin?
In solchen Fällen schätze ich die Möglichkeit, mich in meine Rolle als Vorgesetzte zurückzuziehen und ein Machtwort zu sprechen und mir selbst zu versichern, dass ich nicht die Psychotherapeutin der Firma bin, sondern ganz einfach nur die Chefin.
Eine Firma ist eben doch kein Kindergarten.
Tipp der Mentorin:
An dieser Stelle weise ich erstmals auf die überaus hohe Bedeutung von Persönlichkeitsbildung hin. Ich werde es in folgenden Einträgen immer wieder tun. Nur wer sich selbst und die eigenen Schwachstellen kennt, kann anderen als reife, erwachsene Persönlichkeit gegenübertreten. (Das gilt übrigens nicht nur für das berufliche, sondern auch fürs private Leben.)
Nicht nur auf fachliche Bildung und Weiterbildung kommt es also an. Wer Karriere machen und zu einem/einer mündigen Mitarbeiter:in oder zu einer souveränen Führungskraft werden will, tut gut daran, in die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu investieren.