Ich bin in einer Führungsposition und muss delegieren. Wie viele von uns wissen, ist das Delegieren ein heißes Thema. Die einen können es, die anderen nicht.

Nun muss auch ich mir täglich die Frage stellen: Was delegiere ich? An wen delegiere ich? Wieviel delegiere ich? Delegiere ich in der richtigen Form?

Die Mentorin berichtet:

Wochenlang liegen die Mappen mit Konzepten, Projektvorschlägen und unterschriftsreifer Korrespondenz am Schreibtisch des Chefs. Er ist vielbeschäftigt, kommt nicht dazu, die Dokumente durchzusehen und abzuzeichnen. Wann immer er im Büro auftaucht, rauft er sich die Haare und beklagt sich über die Stöße von Papier, die sich auf seinem Tisch türmen. Er befindet sich in einem Dilemma: Eigentlich hat er zwischen seinen vielen Terminen auswärts kaum Zeit für das Bearbeiten der Akten. Andererseits genügt ihm ein kurzes Durchblättern nicht. Er will alles ganz genau lesen, will wegstreichen, hinzufügen, Grammatik und Kommasetzung verbessern. Nichts will er dem Zufall überlassen, und den zuständigen Sachbearbeiter:innen schon gar nicht. Und so bleiben die Stöße weiter liegen – tagelang, wochenlang, monatelang.
 
Der Chef kann nicht delegieren!

Der Chef kann nicht delegieren, seufzen dann entnervte Mitarbeiter:innen, die dringend auf die Freigabe warten. Sie müssen Kund:innen und Auftragnehmer:innen vertrösten und ihre eigenen Zeitpläne wieder und wieder über den Haufen werfen, nur weil der Chef säumig ist. Viel lieber würden sie zügig und eigenverantwortlich weitermachen. In der Alltagsroutine bräuchten sie die kleinen Anmerkungen und das wiederholte Hinterfragen des Chefs nicht, denn sie wissen selbst, wie es geht.

Der Chef, der die Kontrolle nicht abgeben und am liebsten alles selber machen will, ist dauernd unter Strom. Die Mitarbeiter, die mit ihm zu tun haben, sind es auch. Sie spüren, dass der Chef nicht viel Vertrauen in ihre Fähigkeiten setzt. Sie müssen ständig mit Korrektur und Kritik rechnen. Wie sehr dies Motivation bremsen und Selbstvertrauen untergraben kann, weiß ich noch aus eigener Erfahrung mit so einem Chef, der ein Klima von Unsicherheit schuf und damit Fehler geradezu heraufbeschwor. 

Der Chef kann es immer besser als alle anderen, sonst wäre er ja nicht der Chef, sage ich augenzwinkernd zu dem Mitarbeiter, der sich bei mir über meinen Kollegen ausweint. Ich spiele damit nicht nur auf den fraglichen Chef an, sondern auf all die Chefs, die sich mit dem Loslassen und Delegieren schwertun. Ich kenne derer viele.

Loslassen ist so schwer!

Auch ich habe erst mühsam lernen müssen, zu delegieren und es auszuhalten, dass andere die Dinge vielleicht etwas anders machen als ich es tun würde. So hat es beispielsweise eine gewisse Zeit gebraucht bis ich mich überwinden konnte, Briefe zu unterschreiben, die nicht meinen hohen Standards von Stil und Formulierung entsprachen. Noch heute juckt der “Rotstift” manchmal in meiner Hand, doch ich habe inzwischen gelernt, Prioritäten zu setzen.

Wie um alles in der Welt soll ich schließlich eine Firma führen, wenn ich mich um jede Kleinigkeit selbst kümmere? Dies und ähnliches sage ich mir immer wieder vor, wenn ich wieder einmal kurz davor bin, mich in Details des operationalen Geschäfts einzumischen.

Führungskräfte sind für gute Rahmenbedingungen verantwortlich

Führungskräfte sind dazu da, die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen Mitarbeiter:innen gute Leistungen erbringen können. Dies ist nicht nur eine bewährte Regel für den Alltag von Führungskräften, sondern bringt das Wesen der Führungsaufgabe auch sehr pointiert auf den Punkt.

Den Mitarbeiter:innen etwas zutrauen

Zum Delegieren gehört die Fähigkeit loszulassen, dazu generell ein gutes Stück Gelassenheit, und ein Menschenbild, das von grundsätzlichem Vertrauen geprägt ist. Wer von den Menschen charakterlich und fachlich wenig hält, wird sich schwertun, ihnen wichtige (oder auch weniger wichtige) Aufgaben zu überlassen und darauf zu vertrauen, dass sie sie gut erledigen. 

Ich selbst habe erfahren, wie sehr es beflügelt, einen Chef zu haben, der einem, auch wenn man noch jung und unerfahren ist, etwas zutraut. Dieser Chef hat seine Mitarbeiter:innen zu Höchstleistungen angetrieben und diese Leistungen dann auch wirklich bekommen, weil sich die Mitarbeiter:innen unter seiner Führung frei und sicher fühlten und ihre Talente ohne ständige innere Zensur ausleben konnten.

Unter den Vorgesetzten, die ich kennengelernt habe, sind jedoch jene, die ungern delegieren, in der Mehrzahl. Und wenn sie schon delegieren, sind die meisten mit den Ergebnissen der Arbeit ihrer Mitarbeiter:innen nicht leicht zufrieden. Damit machen sie sich und ihrer Umgebung das Leben schwer.

Welche Chefs delegieren richtig?

Unter den Chefs und Chefinnen, die sich aufs Delegieren verstehen, habe ich zwei Archetypen getroffen:

Zum einen die Machtmenschen, denen es ohnehin vor allem darum geht, im Chefsessel zu sitzen, die keinen besonderen fachlichen Ehrgeiz haben, und gerne andere für sich arbeiten lassen. Die haben kein Problem mit dem Delegieren – solange sie die Früchte der Arbeit ihres Teams selbst „verkaufen“ können.

Die wirklichen Meister des Delegierens sind Menschen wie der vorhin erwähnte Vorzeige-Chef: souveräne, innerlich gefestigte Persönlichkeiten, die Vertrauen in sich und in die anderen haben, die über Augenmaß und Weitblick verfügen und eine gesunde Distanz zu den Aufgaben haben, die zu erfüllen sind. Sie lassen ihre Mitarbeiter:innen in Ruhe arbeiten, würdigen das Ergebnis dieser Arbeit zuerst, bevor sie es vielleicht in kleinen Details kritisieren, stärken ihren Mitarbeiter:innen den Rücken und sind generell großzügig mit Lob und Anerkennung.

Delegieren oder Anordnen?

Das Verhalten dieses Chefs soll meine Richtschnur sein, wenn es ums Delegieren geht, beschließe ich und erkenne, dass es einen Unterschied zwischen Delegieren und Anordnen gibt. Wer anordnet, gibt Aufgaben zwar weiter, behält Verantwortung und Kontrolle aber bei sich. Wer delegiert, überträgt mit den Aufgaben auch die Verantwortung für die Durchführung und das Gelingen an andere, stärkt damit deren Position, und sorgt für seine eigene Entlastung.

Vorteile des Delegierens

Wer meint, nur die eigene Art des Erledigens einer Aufgabe sei die einzig richtige oder sogar mögliche, wird sich nicht nur Verantwortlichkeiten aufhalsen, die er/sie getrost loslassen könnte, sondern liegt generell falsch.

Delegieren hat nämlich viele Vorteile, und ein nicht unwesentlicher besteht darin, dass Mitarbeiter:innen, die man arbeiten lässt, immer wieder Lösungswege finden, auf die die Führungskraft selbst nicht gekommen wäre. Wer krampfhaft festhält und nicht delegiert, blockiert die Entstehung solcher Lösungen und damit unter Umständen Effizienzsteigerungen und Innovation im Unternehmen.

An wen soll delegiert werden?

Vorgesetzte sind Menschen, die immer viel um die Ohren haben. Und da sie Menschen sind wie alle anderen, nehmen sie gerne den Weg des geringsten Widerstands. Dies hat unter anderem zur Folge, dass sie am liebsten an jene Mitarbeiter:innen delegieren, die ihre Bereitschaft zur Übernahme von Arbeit und Verantwortung signalisieren. Dieser soziale Mechanismus ist, glaube ich, in allen Firmen (und nicht nur dort, sondern auch im privaten Leben) bekannt: Wer „hier!“ schreit, wird herangezogen, und wer mehrere Male die Verantwortung übernimmt, ist früher oder später für alles zuständig.

Für Vorgesetzte sind solche Mitarbeiter:innen Gold wert. Sie sind verlässlich, machen Überstunden und sind in jedem Notfall zur Stelle. Grundsätzlich ist an diesem Modell auch nichts auszusetzen, doch sollten beide Seiten, die Führungskräfte und die betroffenen Mitarbeiter:innen, ein Auge darauf haben, dass nicht früher oder später eine Schieflage entsteht und die Belastung für einzelne Eifrige doch einmal zu groß wird.

Die Problematik des Delegierens zeigt sich nicht nur bei Führungskräften, sondern auf allen Ebenen eines Betriebs. Es gibt interessierte und ehrgeizige Mitarbeiter:innen, die nach weiteren Arbeitsaufgaben geradezu zu suchen scheinen. Andere wiederum sind geborene Meister des Delegierens – oder überspitzt ausgedrückt, des Abschiebens von Arbeit auf ihre Umgebung. Ich habe deren Motive nie nachvollziehen können und komme bis heute immer wieder ins Staunen. So etwa, als ich kürzlich eine Mitarbeiterin bat, für eine Sitzung einen Beamer einzurichten, und sie mich per Mail wissen ließ, dass sie fürs Elektronische nicht zuständig sei, und ich mich doch an den Kollegen XY wenden solle – statt dies ganz selbstverständlich selbst zu tun. Noch besser wusste sich eine mittlerweile legendär gewordene Beamtin abzugrenzen, die einem Anrufer, der mit einer Bombe drohte, riet, sich an jemanden anderen zu wenden, weil Bombendrohungen nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fielen.

Den ewigen Hier-Schreier:innen sei an dieser Stelle gesagt, dass die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung zweifellos eine Voraussetzung für den beruflichen Aufstieg ist. Gleichzeitig sollten aber gerade sie darauf achten, dass sie sich nicht verausgaben und eines Tages dabei zusehen müssen, wie andere, die sich besser aufs Delegieren verstehen und daher mehr Zeit zum Netzwerken haben, auf der Karriereleiter an ihnen vorbeiziehen.

Grenzen des Delegierens?

Schließlich stellt sich noch die Frage, welche Aufgaben delegiert werden sollen, und wann es für eine Führungskraft angebracht ist, dennoch „von oben“ einzugreifen.

Ich bin in meinem Unternehmen auf der Vorstandsebene für Personalangelegenheiten verantwortlich, habe aber viele Agenden an die Abteilungsleitungen delegiert. Nun höre ich, dass einer unserer besten Mitarbeiter kündigen will. Ich bitte ihn zu mir und versuche, ihn zum Bleiben zu überreden. Er hat aber bereits eine neue Stelle und legt mir die Kündigungsgründe dar, die ausschließlich im Verhalten des Abteilungsleiters liegen. Er berichtet mir ein paar Beispiele, die mir die Haare zu Berge stehen lassen. Warum er nicht zu mir gekommen sei, frage ich den Mitarbeiter, der bald keiner mehr sein wird. Weil er ja nicht hatte wissen können, wie ich reagieren würde, meint er und fügt hinzu: Hätten Sie sich auf die Seite des Abteilungsleiters gestellt, hätte ich es ohne neuen Job in der Tasche sehr schwer gehabt.

Ich verstehe sein Dilemma, das ich aber auch als das Meine erkenne: Einerseits will ich delegieren und Verantwortung an Mitarbeiter:innen übertragen. Andererseits laufe ich Gefahr, wie im geschilderten Fall, mit unliebsamen Überraschungen konfrontiert zu werden, auf deren Verlauf ich keinen Einfluss mehr habe. Wie kann man Kenntnis über kritische Vorgänge in einer Abteilung erlangen ohne die Unternehmenshierarchie zumindest gelegentlich zu durchbrechen? Soll man sich als Geschäftsleitung doch mehr in Abteilungsangelegenheiten einmischen? Soll man deutlich machen, dass man im Ernstfall jederzeit für Mitarbeiter:innen ansprechbar ist? Soll man gelegentlich selber nachfragen, damit einem nicht allzu viel entgeht? Oder belässt man alles wie es ist, und akzeptiert einfach, dass solche Fälle als unliebsame Nebenerscheinungen des Geschäftsbetriebs in Kauf zu nehmen sind?

Das sind Fragen, für die es naturgemäß keine allgemeingültigen Antworten gibt. Man muss als Führungskraft immer wieder von Neuem über sie nachdenken.

Tipp der Mentorin:
Mein bereits erwähnter vorbildlicher Ex-Chefs, ein viel gefragter Mann, fing eines Tages damit an, ein „Nein“-Tagebuch zu führen, mit dessen Hilfe er sich davor retten wollte, zu viele Einladungen zu Vorträgen, Podien oder sonstigen Treffen anzunehmen.

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, ein paar Monate lang ein „Tagebuch des Delegierens“ zu führen.