Kürzlich hörte ich in einer Radiosendung einen Experten, der sich in einem Buch mit dem Thema Sitzungen in Unternehmen befasst, dieselben als reine Zeitverschwendung abqualifiziert und pauschal für unnötig erklärt. Man verbringe neunzig Prozent seiner Arbeitszeit in Meetings, so behauptete er, in denen Dinge beschlossen werden, die nie zur Umsetzung gelangten. Die wirklich wichtigen Entscheidungen fielen ohnehin woanders, und so solle man seine Zeit lieber mit Tun verbringen als mit Reden.

Lieber „Tun“ als „Sitzen“?

Hat man wie ich schon viele Jahre im Berufsleben zugebracht, weiß man, dass dieser Befund nicht ganz abwegig ist – auch wenn man letztlich doch nicht ganz so viel Zeit „versitzt“ wie er behauptet, und manche Sitzungsergebnisse doch zu verbindlichen Beschlüssen und produktiven Aktivitäten führen.

Kein Tag ohne Sitzung

Ich persönlich nehme an vielen Sitzungen teil, die regelmäßig oder anlassbezogen stattfinden. Viele sind firmenintern, zu anderen kommen Geschäftspartner:innen hinzu. Die meisten meiner Sitzungen finden in unseren Büros statt, manche in den Räumlichkeiten anderer Unternehmen oder bei Behörden, und manchmal auch in gastlichen Stätten wie Restaurants oder Kaffeehäusern. Seit ich in einer Führungsposition bin, vergeht für mich kaum ein Tag ohne eine Sitzung, meistens sind es mehrere.

Wer liebt Sitzungen?

Ich kenne viele Menschen, die über Sitzungen stöhnen und umgekehrt niemanden, der Sitzungen liebt. Es gibt viele Gründe, Sitzungen nicht zu mögen. Sitzungen sind oft langweilig und gleichzeitig anstrengend. Sie rauben Nerven und Energie. Und man erlebt in Sitzungen so manches Schräges, auf das man gerne verzichten würde.

Die ideale Sitzung

Sitzungen dienen dazu, Sachlagen darzulegen, Informationen auszutauschen, Lösungen für Probleme zu erörtern, Kompromisse zu erarbeiten, Konsens zu erzielen, und Entscheidungen vorzubereiten. Die Sitzungsleitung moderiert, begrüßt auch zu spät Kommende und bezieht diese in den Verlauf der Sitzung ein, indem sie kurz zusammenfasst, was bisher geschah, und sieht zu, dass alle, die etwas sagen möchten, auch zu Wort kommen. Die Teilnehmenden sind höflich, hören einander aufmerksam zu, lassen die anderen ausreden, würdigen deren Argumente, fallen niemandem in Wort, und sind ausschließlich an Sachfragen und deren Lösung interessiert. Am Ende fasst man sachlich begründete Beschlüsse, die von allen mitgetragen werden, und geht zufrieden auseinander.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, ist man versucht, sarkastisch zu kommentieren. Wir alle wissen, dass es in Wirklichkeit in Sitzungen meist ein wenig anders zugeht.  

Sitzungen in der Realität

Auch wenn wir besten Willens zusammenkommen um gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten, geht es in einer Sitzung äußerst selten nur um das Thema, das laut Tagesordnung behandelt werden soll. Wer das nicht glaubt, möge sich bei den nächsten Sitzungen mal ein bisschen zurücklehnen und die soziale Dynamik zwischen den Sitzungsteilnehmer:innen aufmerksam beobachten. Dazu kommen typische Aspekte von Sitzungen, die in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, uns

Wer sind die Teilnehmer:innen?

Man kommt in eine Sitzung, in der man von den zwanzig Anwesenden nur einen oder zwei kennt, und trotzdem sind weder Namensschilder aufgestellt, noch ist eine Vorstellungsrunde vorgesehen, in der die Teilnehmer:innen einander mit Namen und Funktion vorstellen. Wenn dann auch noch, was auch nicht so selten vorkommt, unklar ist, was das gemeinsame Ziel der Sitzung ist, gleichen solche Termine dem „Blinde-Kuh-Spielen“ von Kindern, wo man auch nur vage ertasten kann, wo sich wer befindet, und was er/sie beabsichtigt. Eine solche Situation mag ihren Reiz haben, wenn man versuchen muss, nach und nach anhand von Wortmeldungen die Sitzungsteilnehmer zu identifizieren und zuzuordnen, doch im Sinne einer effizienten Problemlösung ist sie suboptimal. Wenn das Stiften von Verwirrung keine taktische Finte ist, wäre es in solchen Fällen Aufgabe der Sitzungsleitung, für Klarheit zu sorgen.

Wo sind die Wortführer:innen?

Wer führt das Wort? Wer spricht, und wie lange? Wer lässt wen zu Wort kommen und wen nicht? Wer unterbricht wen? Wessen Argumente werden gehört und in die Diskussion aufgenommen, wessen Wortmeldungen hingegen überhört, als irrelevant abgetan, oder gar herabgewürdigt? Wieso reitet jemand endlos auf einem nebensächlichen Thema herum? Will er/sie Zeit gewinnen? Warum bringt ein anderer noch einmal das Argument ins Spiel, das eigentlich längst abgehandelt ist? Will er/sie die Lösung blockieren? Setzt er/sie bewusst auf Zermürbung der Sitzungsteilnehmer:innen? Was lässt sich aus Ton und Wortwahl der einzelnen Beiträge herauslesen? Wer sucht wessen Blick und wessen Zustimmung? Geht es beim Wortwechsel der beiden Delegationsführer um die Sache, oder kämpfen da zwei Alphatiere um das Vorrecht im Revier? An welchem Ende des Tisches sitzt die Macht?

Wer von uns hat als Sitzungsteilnehmer:in noch nie das Gefühl gehabt, sich sehr anstrengen oder gar kämpfen zu müssen, um zu Wort zu kommen? Wer ist noch nie unterbrochen worden, bevor das eigene Argument ausformuliert werden konnte? Wessen Vorschlag wurde von der Sitzungsleitung noch nie als unrealistisch oder gar lächerlich abgetan, während er, ähnlich formuliert von einer mächtigeren Person, zehn Minuten später auf große Zustimmung gestoßen ist? Wer wurde noch nie in einer Sitzung belehrt oder zurechtgewiesen?

Soziale Dynamik in Sitzungen

Wem von uns sind sie in Sitzungen noch nicht begegnet, die eitlen Selbstdarsteller, die vor lauter Selbstverliebtheit nicht mehr aufhören können zu reden? Oder die langweiligen Dozierer, die vor allem mit ihrem Wissen brillieren und beeindrucken wollen? Oder diejenigen, die scheinbar sachliche Argumente ins Spiel bringen, aber in Wirklichkeit Breitseiten gegen die andere Seite abschießen? Oder die, die sich Kompromissen verschließen, weil sie befürchten, dann das Gesicht zu verlieren? Oder jene mit dem vielen Sitzfleisch, die alle Zeit der Welt haben und darauf zählen, dass immer der gewinnt, der es am längsten aushält?

Frauen und Männer – Zuhören und Unterbrechen

Sind in der Sitzung Männer und Frauen zugegen, lohnt es sich zu beobachten, wie oft Männer und wie oft Frauen das Wort ergreifen, wie viel Redezeit der jeweiligen Person zugestanden wird, und wer wen unterbricht. Das Ergebnis wird überraschen, obwohl man dieses Phänomen auch bei Diskussionsrunden im Fernsehen oft beobachten kann: Männer reden öfter und länger; sie lassen Frauen seltener ausreden und unterbrechen sie, bevor sie mit ihrem Beitrag fertig sind. Und die Frauen lassen sich all das nur allzu oft gefallen.

Sitzungsbeschlüsse ohne Verbindlichkeit

Und wer hat noch nie eine Sitzung erlebt, in der verbindliche Beschlüsse gefasst wurden („so machen wir es“), ohne Zuständige für die Durchführung zu nominieren und ohne Zeitpläne festzulegen – sodass man am Anfang schon weiß, dass am Ende gar nichts geschehen wird, weil sich niemand verantwortlich fühlt?

Wie soll man sich in Sitzungen verhalten?

Bei den meisten Sitzungen geht es also mitnichten nur sachlich und fair zu. Man tut gut daran, sich dessen bewusst zu werden, und sich auf wichtige Sitzungen nicht nur fachlich gut vorzubereiten, sondern sich auch emotional zu wappnen. Den Polterern und Machtmenschen brauche ich hier keine Ratschläge zu erteilen, aber die Leiseren unter uns sollten sich durchaus Strategien zurechtlegen um ihre Position zu behaupten, und ein paar Floskeln parat zu haben, um Übergriffen gekonnt zu parieren.

„Mitspielen“, auch wenn man nichts Nobelpreiswürdiges zu sagen hat

Man kann sich beispielsweise vornehmen, so bald wie möglich mitzureden um als „Mitspieler:in“ wahrgenommen zu werden, und nicht zu warten, bis einem etwas wirklich Gescheites, ganz Neues, noch nie Gesagtes, einfällt um sich zu Wort zu melden. Man sollte keine Angst vor einer Blamage haben, denn auch andere Sitzungsteilnehmer:innen sagen nicht immer etwas Originelles. Und wenn man einmal wirklich etwas Falsches sagt, geht davon auch die Welt nicht unter. Schlimm ist es hingegen, wenn man, nachdem man sehr lange geschwiegen hat, von den anderen gar nicht mehr wahrgenommen wird.

Darüber hinaus wird man zu Sitzungen ja meistens eingeladen, damit eine Dynamik entsteht. Es geht also tatsächlich auch ums „Mitspielen“. Ich habe das einst im Rahmen von Kamingesprächen eines Politikers gelernt, zu denen ich als Expertin meines Fachs eingeladen war. Dort habe ich geschwiegen, wenn gerade nicht mein Thema besprochen wurde, oder wenn mir nichts großartig Neues einfiel. Irgendwann nahm mich der Politiker, der offenbar viel von mir hielt, zur Seite und gab mir den Tipp, in jeder Sitzung möglichst bald etwas zu sagen um Flagge zu zeigen und um die Diskussion in Gang zu bringen.

Wird man für eine Wortmeldung kritisiert oder gar angegriffen, sollte man dies nicht nur aushalten, sondern sich darauf vorbereiten, Kontra zu geben. Keinesfalls sollte man sich eingeschnappt zurückzuziehen und schweigen, denn womöglich ist es genau das, was der/die Kontrahent:in beabsichtigt.

Man kann sich vor einer Sitzung auch bewusst vornehmen, sich das Wort nicht abschneiden zu lassen und im Anlassfall, je nach Ernst der Lage, mit einer humorvollen Bemerkung oder aber einfach in bestimmtem Ton darauf zu bestehen ausreden zu dürfen.

Lieber Statement als Frage

Frauen sollten nicht, wie es leider oft geschieht, Feststellungen in Frageform kleiden („Ist es nicht so, dass…“) und womöglich dabei lächelnd in die Runde blicken. Obwohl ich verstehe, dass Frauen, denen es auch heutzutage noch übelgenommen wird, wenn sie Klartext sprechen (man denke nur an die Menge von Hasspostings gegen Frauen, die sich öffentlich zu Wort melden), sich durch ein verharmlosendes Lächeln vor möglichen Aggressionen schützen wollen. Sie riskieren aber, dass sie damit weniger ernst genommen werden als mit einer Ansage in deutlichen Worten.

Perspektive wechseln

Kommt es während einer Sitzung zu angespannten oder eingefahrenen Situationen, kann es helfen, den Sitzplatz zu wechseln. Wenn jemand aufsteht und sagt, „Ich schau mir das jetzt mal aus einer anderen Perspektive an“, und sich woandershin setzt, bringt dies die die Sitzungsdynamik manchmal in erstaunlicher Weise in Bewegung.

Auf die Meta-Ebene wechseln

Sitzungen werden kaum angenehmer, wenn man sich ihrer machtbezogenen Komponenten bewusst ist, doch hilft es, wenn man die Mechanismen durchschaut und im Idealfall für sich nutzen kann. Ist man sich seiner Sache sicher, kann man seine Beobachtungen – auf der Meta-Ebene sozusagen – auch ansprechen. („Ich glaube, wir sollten wieder auf die Sachebene zurückkehren“) Freunde macht man sich dadurch möglicherweise nicht, aber Respekt verschafft man sich allemal.

Wie lange dauern Sitzungen?

Sind die „Show-Einlagen“ der Selbstdarsteller der Grund, dass Sitzungen meist länger dauern als notwendig, oder ist es etwas anderes? Stimmt es tatsächlich, dass, wie manche behaupten, Sitzungen immer so lange dauern, wie Zeit für sie veranschlagt ist, auch wenn man weitaus schneller zum Punkt kommen könnte?

Ich habe dazu im Rahmen eines internationalen Projekts einmal eine interessante Beobachtung gemacht:

Aus allen Ecken Europas kamen Teilnehmer:innen zu einer eintägigen Projektsitzung in Barcelona zusammen und staunten nicht schlecht, als sie sahen, dass die katalanische Projektleitung ein dreistündiges Mittagessen auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Die pflichtbewussten Menschen aus dem Norden protestierten heftig, denn sie waren sicher, dass wir es nicht schaffen würden, alle offenen Punkte abzuarbeiten. Die Katalanen sahen lächelnd über die Bedenken hinweg und lotsten uns zu Mittag in ein gemütliches Lokal mit hervorragender Küche. Nach dem mehrgängigen Mahl und ein paar Gläschen Wein kehrten wir an den Sitzungstisch zurück. Und siehe da: Nun fielen alle ausstehenden Entscheidungen binnen einer Stunde. Man hätte statt des Mittagessens auch drei Stunden länger diskutieren können. Das Sitzungsergebnis wäre kein anderes gewesen, doch um das herrliche Mittagessen wären wir alle umgefallen.

Sitzungsleitung

Um Sitzungen kommt man im Geschäftsleben nicht herum. Ich halte es mittlerweile so: Bin ich für eine Sitzung verantwortlich und/oder leite ich sie selber, dann bereite ich mich bestmöglich vor, bleibe während der Sitzung aufmerksam und versuche, die eben angesprochenen Fehler zu vermeiden. Ich achte, wenn möglich, auf eine Sitzordnung, die eine produktive Sitzungsdynamik verspricht, stelle sicher, dass die Anwesenden einander in ihren Funktionen und institutionellen Zugehörigkeiten kennen, skizziere die Tagesordnungspunkte und gebe einen Zeitrahmen vor. Ich sehe zu, dass alle, die sich melden, zu Wort kommen, dass man einander ausreden lässt, und unterbreche, wenn die Wortmeldungen in lange Monologe ausarten, die nur der Selbstdarstellung dienen. Da ich selten auf Zermürbungstaktik setze, plane ich regelmäßig Pausen ein. Auch für Verpflegung – zumindest in Form von Wasser und Kaffee – ist stets gesorgt. Es sollte immer jemand dabei sein um das Protokoll zu führen, sodass keine/r der Teilnehmer:innen selber Notizen machen muss. Ist kein/e Protokollführer:in zugegen, bitte ich eine/n der Anwesenden die Protokollführung zu übernehmen. Wenn möglich, bitte ich einen Mann, damit es nicht immer die Frauen sind, die diesen Job übernehmen müssen.

Externe Moderation

Im besten Fall gibt man die verfahrenstechnische Verantwortung an eine externe Moderation ab. Voraussetzung dabei ist, dass die anderen Sitzungsteilnehmer:innen den Moderator/die Moderatorin als unparteilich sehen und ihn/sie auch als Persönlichkeit akzeptieren.

Über Sitzungen könnte man endlos weiter räsonieren, und ich bin mir sicher, dass es auch jede Menge Fachliteratur dazu gibt. Ich rate allen, die viele Sitzungen zu absolvieren haben, dazu, über Sitzungen nicht nur zu stöhnen und zu meckern, sondern sich mit den Themen, die sich um derartige Zusammenkünfte ranken, ein wenig auseinanderzusetzen. Es wird ihnen danach viel Interessantes auffallen und hoffentlich dann so manches leichter fallen.