Das englische Wort „Stakeholder“ ist aus der Business-Sprache nicht mehr wegzudenken. Schlägt man es im Wörterbuch bzw. in einem Übersetzungsprogramm nach, findet man Begriffe wie „Anspruchsberechtigte“, „Geschäftsinteressent:innen“, „treuhändische Verwahrer“, aber auch „Teilhaber:innen“ und „Anteilseigner:innen“. Teilhaber:innen und Anteilseigner:innen, also Aktionär:innen, sind genaugenommen „Shareholder“ und als solche eine Teilmenge der Stakeholder. Während Shareholder tatsächlich Anteile am Unternehmen halten, sind die Interessen der Stakeholder nicht ausschließlich ökonomisch bedingt, sondern weitaus vielfältiger.
Ein Unternehmen mag nach außen das Bild einer homogenen Einheit mit einem bestimmten Image bieten, ist aber in Wirklichkeit ein vielschichtiges Gefüge von unterschiedlichen Beziehungen, sowohl im Innenverhältnis als auch mit der relevanten Umwelt.
Wer gehört zu den Stakeholders?
Dass Mitarbeiter:innen, Chef:innen, Kundschaft und die Kontrollorgane wie der Aufsichtsrat zu den Stakeholdern eines Unternehmens gehören, liegt auf der Hand.
Aber wer gehört noch zu den Stakeholdern? Wer aller hat Ansprüche und Interessen in Bezug auf unser Unternehmen?
Wer die Stakeholder meiner Firma sind, erfahre ich bald nach meinem Eintritt in allen Einzelheiten als ich die Einladungsliste des jährlichen Sommerfests unserer Firme durchgehe. Zu diesem Fest werden nicht nur die Mitarbeiter:innen und die Mitglieder der Aufsichtsorgane, sondern auch Vertreter:innen des gesamten geschäftlichen Umfelds der Firma eingeladen.
Die periodische Aktualisierung der Einladungsliste für dieses Jahresevent ist in unserem Unternehmen eine Angelegenheit höchster Wichtigkeit. Um alle zu erfassen, mit denen aktuell Geschäftsbeziehungen bestehen, und etwaige Veränderungen von Funktionen und Positionen zu berücksichtigen, wandert die Liste zu Jahresbeginn durchs Haus, wird vom Chefsekretariat ergänzt und von jedem einzelnen Vorstandsmitglied überprüft.
Ist die Einladungsliste für das Sommerfest fertig, gibt sie einen vollständigen Überblick über den Stakeholder-Kreis unseres Unternehmens.
Wer sind die Stakeholder?
Welche Verbindung zum Unternehmen haben sie? Wodurch wird jemand zum „Stakeholder“?
Je nach Branche oder gesellschaftlichem System, dem ein Unternehmen angehört, je nach seinem Tätigkeitsfeld und seiner wirtschaftlichen Ausrichtung gestaltet sich der Kreis der Stakeholder unterschiedlich. Die Stakeholder eines kleinen Friseurladens werden über den Chef/die Chefin, die Angestellten, den/die Vermieter:in der Geschäftsräume, die Gewerbe- und die Steuerbehörde, die Hausbank und die Kundschaft nicht hinausgehen. Je größer das Unternehmen, umso mehr Stakeholder-Gruppen kommen hinzu. Dann zählen auch Aktionäre, Banken, Kontrollorgane, Lieferanten, Auftragnehmer, Rechtsberater, behördliche Stellen, oder auch Interessenvertretungen zu den Stakeholdern.
Interessen und Ansprüche der Stakeholder
Allen Stakeholdern gemeinsam ist das Interesse an einer erfolgreichen Entwicklung des Unternehmens – auch wenn sie keinen unmittelbaren ökonomischen Nutzen daraus ziehen. Geht es dem Unternehmen gut, profitieren in der einen oder anderen Weise auch die Stakeholder. Leiden hingegen die Geschäfte, haben auch Stakeholder Nachteile zu erwarten, und das will naturgemäß niemand, der mit dem Unternehmen verbunden ist.
Im Detail sind die Erwartungen der einzelnen Stakeholder ans Unternehmen höchst unterschiedlich.
Die Belegschaft will einen sicheren Arbeitsplatz, gute und pünktlich überwiesene Gehälter, Sozialleistungen, ein angenehmes Betriebsklima, persönliche Aufstiegs- und Entfaltungschancen. Die Aktionär:innen des Unternehmens erwarten sich Gewinne. Kontrollorgane legen ein besonderes Augenmerk darauf, dass die Geschäfte in legalen Bahnen laufen und solide gewirtschaftet wird. Geldgeber, also beispielsweise Banken, brauchen einen realistischen Überblick über die aktuelle Lage und die Entwicklungsperspektiven des Unternehmens. Sie erwarten stabile Geschäftsbeziehungen und beispielsweise ein verlässliches Bedienen von Krediten. Das Finanzamt erwartet regelmäßige Steuerzahlungen, und die Beamten der staatlichen Behörden erwarten zu Recht, dass gesetzliche Vorschriften eingehalten und Ansuchen um etwaige Genehmigungen ordnungsgemäß eingebracht werden.
Die Kundschaft legt Wert auf Qualität und Verlässlichkeit bei der Herstellung und dem Vertrieb von Gütern und Dienstleistungen des Unternehmens. Lieferant:innen und andere Auftragnehmer:innen, sowie Rechts- oder Unternehmensberater:innen wollen regelmäßige Aufträge und ein termingerechtes Begleichen ihrer Rechnungen und Honorare. Und so weiter.
Welches Service erwarten Stakeholder vom Unternehmen?
Generell ist es unsere Aufgabe als Führungskräfte, die Stakeholder in die Lage zu versetzen, ihre Funktion gegenüber unserem Unternehmen zu erfüllen. Je nach Funktion brauchen sie unterschiedliche Serviceleistungen.
So brauchen etwa Aufsichtsräte und andere Kontrollorgane Informationen, die es ihnen möglich machen, ihrer Kontroll-, Steuerungs- und Lenkungsfunktion nachzukommen. Demnach sind die Papierstapel, die wir für die Aufsichtsratssitzung vorbereiten müssen, keine lästige Schikane, sondern notwendiges Arbeitsmaterial für die Organe. Dasselbe gilt auch für die Bürokratie und die vielen Formulare, die es für Behörden und Banken auszufüllen gilt, wenn wir ein Ansuchen stellen. Ein von uns eingeladener Eröffnungsredner erwartet zu Recht ein faktenbasiertes Briefing. Die Kundschaft, von deren Wohlwollen das Unternehmen in hohem Maße abhängig ist, hat ein Anrecht darauf, in ihren Ansprüchen und in ihrer Kritik ernst genommen zu werden. Und so weiter.
All dies ist Teil eines guten „Stakeholder-Services“. Es geht dabei einerseits darum, die Funktionslogik der jeweiligen Stakeholder-Gruppe nachzuvollziehen und anzuerkennen, dass die strukturell bedingten Ansprüche und Erwartungen der Stakeholder berechtigt sind.
Andererseits soll man sich immer vor Augen halten, dass die Mitglieder von Stakeholder-Gruppen auch Menschen wie du und ich sind. Sie wollen sich in ihrer Funktion uns gegenüber kompetent und sicher fühlen, und dazu sollten wir, soweit es unser Unternehmen betrifft, in bestmöglicher Weise beitragen. Sie wollen auch Wertschätzung erfahren. Auch dafür haben wir zu sorgen.
Wer ist für die Stakeholder „zuständig“?
Während Mitarbeiter:innen der zweiten oder dritten Ebene meist nur mit einem Ausschnitt des gesamten Stakeholder-Spektrums in Kontakt treten, gehört es zu den Aufgaben der Unternehmensleitung, sich um alle Stakeholder zu kümmern. „Meine Hauptaufgabe ist es, meine Umgebung bei Laune zu halten“, antwortete einmal ein Branchenkollege in einem Seminar augenzwinkernd auf die Frage nach seinem Tätigkeitsbereich. Er brachte das damit das Verhältnis der Unternehmensleitung zu Stakeholdern ziemlich treffend auf den Punkt.
Stakeholder brauchen Aufmerksamkeit
Abgesehen von einer umsichtigen Geschäftstätigkeit, die auch die Interessen der Stakeholder im Auge hat, gilt für Stakeholder das, was für das menschliche Miteinander im Allgemeinen zutrifft.
Kooperationsbereitschaft und Wohlwollen sichert man sich langfristig am besten mit Zuverlässigkeit in der Arbeit und darüber hinaus mit ehrlicher Wertschätzung für Personen. Ein bisschen Hofieren besonders wichtiger Stakeholder hat überdies auch noch nie geschadet, und ebenso wenig, zu einem Stakeholder öfters Danke zu sagen, auch wenn er/sie nur ihre Pflicht erfüllt.
Bei unserem Sommerfest nimmt einer meiner Kollegen sehr charmant die Begrüßung der Gäste vor und legt seinen Ehrgeiz in die Aufgabe, möglichst viele der Anwesenden (und es sind derer Hunderte) unter Nennung ihres Namens und ihrer Funktion zu begrüßen bzw. keine der Institutionen zu vergessen, die durch eine oder mehrere Personen auf der Feier vertreten sind. Ich bewundere ihn für seinen Mut, denn es ist fast nicht zu vermeiden, dass trotz aller Sorgfalt der eine oder die andere bei der Begrüßung übersehen wird.
Und so sind wir, wie jedes Jahr, in der Woche danach damit beschäftigt, Blumensträuße und Weinflaschen mit Entschuldigungsschreiben an all jene wichtigen Stakeholder zu versenden, die bei der Feier unerwähnt blieben, weil sie ohne Anmeldung gekommen waren und daher nicht auf der Begrüßungsliste standen. Wir tun dies mit Augenzwinkern, doch ich bin sicher, dass sich der kleine Aufwand lohnt.
Grundsätzlicher Tipp der Mentorin:
Für den Umgang mit Stakeholdern empfiehlt es sich, sich in die Rolle des jeweiligen Stakeholders zu versetzen. Dann werden Sie rasch erkennen, was der Stakeholder für seine Arbeit mit Ihnen braucht. Und dann geben Sie ihm/ihr genau das.