Im letzten Beitrag haben wir uns angesehen, warum Unternehmen und Institutionen in ihren Handlungen mitunter wenig Rücksicht auf Mitarbeiter:innen nehmen, und dargelegt, warum ein solches Verhalten für die Unternehmen eine innere Logik hat. Wir sind bei unseren Betrachtungen implizit davon ausgegangen, dass Unternehmen rational handeln. (Natürlich handeln nicht die „Unternehmen“, sondern deren Repräsentant:innen, doch diese tun es im Namen der Unternehmen, und deshalb sei mir die Unschärfe der Formulierung im Sinne der Einfachheit erlaubt!)
Unternehmen handeln rational im Sinne ihrer Nutzenmaximierung. Sie honorieren Leistung und Loyalität, sie sind interessiert an hoher Produktivität, sie kalkulieren sorgfältig und verschwenden keine Ressourcen. Soweit die Theorie.
Was aber ist, wenn wir Beobachtungen machen, die dieser Theorie – zumindest scheinbar – zuwiderlaufen?
Wie ich haben die meisten von Ihnen während eines langen Berufslebens Gelegenheit bekommen, sich über Vorgänge im eigenen oder in fremden Unternehmen – gelinde gesagt – zu wundern. Mitunter spielen sich Dinge ab, die unser Alltagsverständnis von Anstand und Logik krass auf die Probe stellen, die befremden, verunsichern, abstoßen und vielleicht sogar ängstigen. So manches, was tagtäglich passiert, läuft aber nicht nur unserem Gerechtigkeitssinn, unserem humanistischen Wertesystem und unserem gesunden Menschenverstand zuwider, sondern gibt tatsächlich auch Anlass zu fragen:
Handeln Unternehmen eigentlich rational?
Die Mentorin berichtet:
Alle, die wie ich schon ein paar Jahre in Unternehmen oder Institutionen gearbeitet haben, brauchen nicht lange nach Beispielen wie den folgenden zu suchen:
• Man schickt ältere Mitarbeiter:innen mit einem „Golden Handshake“ in eine frühe Pensionierung. Das zieht Wissen und Erfahrung ab und kostet dem Unternehmen immens viel Geld.
• Eine langjährige Mitarbeiterin mit wichtiger Schlüsselfunktion im Unternehmen steht dem neuen Abteilungsleiter nicht zu Gesicht. Er mobbt sie so lange, bis sie ernsthaft krank wird. Sie wendet sich an die Geschäftsleitung, die zwar Betroffenheit und Verständnis zeigt, aber auch signalisiert, dass sie nichts unternehmen wird. Der Abteilungsleiter ist von jemandem in einflussreicher Position an seine Position gehievt worden, mit dem man es sich nicht verscherzen will. So opfert man die verdiente Mitarbeiterin, lässt sie mit ihrem wertvollen Know-how ziehen und nimmt es in Kauf, etliche Kund:innen zu vergraulen, weil die betroffene Abteilung für mehrere Monate nur bedingt handlungsfähig ist.
• Eine Geschäftsbank bekommt einen neuen internationalen Eigentümer. Fernab des regionalen Geschehens beschließt die neue Konzernleitung, eine auf Finanzdienstleistungen für eine bestimmte Branche spezialisierte Abteilung zu schließen. Den Abteilungsleitern hilft es nicht, ins Treffen zu führen, dass man in den Geschäften mit besagter Branche in dreißig Jahren hohe Erträge lukriert und nicht einen Cent verloren hat. Statt sich über die spezifischen regionalen Begebenheiten kundig zu machen, ziehen es die Herrschaften in den fernen Headquarters vor, auf sichere Gewinne zu verzichten und langjährige Großkundschaft für immer der Konkurrenz zu überlassen.
• Für den Expansionsschritt in neue Märkte werden von einer international tätigen Beraterfirma etliche hochkarätige Fachleute angeworben. Bevor diese ihren Dienst antreten, wird die Expansion von der Konzernleitung plötzlich abgeblasen. Diese Entscheidung kostet das Unternehmen viel Geld, da die Verträge den angeheuerten Fachkräften nicht nur die Auszahlung ihrer hohen Gehälter über mehrere Monate, sondern auch eine ordentliche Abfindung vorsehen.
• Im internationalen Geschäft in einem für Korruption berüchtigten Land deckt ein Mitarbeiter eines heimischen Unternehmens in seinem Wirkungsbereich einen Korruptionsfall auf. Er wird dafür nicht belobigt oder gar belohnt, sondern umgehend nach Hause geschickt.
• In einem Unternehmen entdeckt man einen internen Betrugsfall. Man entlässt den darin verwickelten Mitarbeiter zwar, verzichtet jedoch auf eine Anzeige. Als der korrupte Mitarbeiter droht, zu Gericht zu gehen und die Sache ohne Rücksicht auf den Schaden für seine eigene Person publik zu machen, bietet das Unternehmen sofort einen Vergleich mit einem hohen Geldbetrag an, der ihn zum Schweigen verpflichtet.
• Ein Mitarbeiter wird wegen sexueller Belästigungen von Kolleginnen nach mehreren erfolglosen Verwarnungen fristlos entlassen. Um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, zahlt man ihm stillschweigend sein Gehalt über etliche Monate weiter.
• Nicht nur in der Politik oder in staatsnahen Betrieben kommt es immer wieder zu machtpolitisch motivierten Personalrochaden. Da werden Führungskräfte plötzlich abgesetzt, auch wenn sie eine lange Reihe von messbaren wirtschaftlichen Erfolgen vorweisen können, und sich nichts zuschulden haben kommen lassen. Dass man die vorzeitigen Vertragsauflösungen oft mit Millionenbeträgen kompensieren muss, ist oft Teil solcher Deals.
Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
Sind derartige Entscheidungen tatsächlich irrational?
Einige der fragwürdigen Entscheidungen können wahrscheinlich wirklich auf irrationales Verhalten zurückgeführt werden.
So kann es sich bei Fehlentscheidungen tatsächlich um Irrtümer handeln, die den verantwortlichen Führungskräften unterlaufen. Sie können in der problematischen Persönlichkeitsstruktur einer Führungskraft begründet sein. Nicht wenige Führungskräfte missbrauchen ihre Macht um die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse durchzusetzen, und bis zu einem gewissen Grad ist ihnen dies in ihrer Position auch möglich. (Zum Thema „toxische Führung“ kommen wir in einem der nächsten Beiträge.)
Vielleicht will sich eine neue Führungskraft bzw. Führungsriege profilieren, indem sie Entscheidungen der Vorgänger:innen rückgängig macht. So etwas ist Teil des Machtspiels und hat selten rationale Hintergründe.
Es können, wie in Fällen von willkürlich abgesetzten Führungskräften, generell Machtkalküle der entscheidende Faktor sein. Will eine Gruppierung ihre Machtsphäre erweitern, dann wird sie sich nicht scheuen, eine noch so erfolgreiche Führungskraft abzusetzen, um eine/n der Ihren an deren Stelle zu setzen. Hier befinden wir uns in einem Graubereich, denn eine solche Entscheidung kann, je nachdem, aus welcher Perspektive man sie betrachtet, mehr oder weniger rational sein.
Entscheidungen von „übergeordneter“ Rationalität
Dann gibt es eine Reihe von Entscheidungsgründen, die auf den ersten Blick irrational, ineffizient oder sogar unmoralisch aussehen, es aber bei näherer Betrachtung (zumindest in der Logik unseres Wirtschaftssystems!) nicht sind.
Dass Einzelne immer hinter den Interessen des Unternehmens zurückstehen müssen, haben wir bereits im vorigen Beitrag erörtert.
So ist es beispielsweise aus der Sicht des Unternehmens rational, interne Konfliktherde beseitigen zu wollen und von zwei Konfliktparteien diejenige zu entfernen, über die niemand eine mächtige Hand hält – und waren ihre Verdienste in der Vergangenheit noch so hoch.
Die Entlassung älterer, „teurer“ Mitarbeiter:innen macht sich, aus mittelfristigen betriebswirtschaftlichen Überlegungen und monetär betrachtet, für Unternehmen, die Aktionäre bedienen müssen und dafür kurzfristige Gewinne brauchen, bezahlt, wenn man statt ihrer junge, „billige“ Kräfte anheuern kann.
Die Schließung eines Geschäftszweiges, auch wenn er regional erfolgreich ist, kann in einem internationalen Konzern Teil einer rationalen Geschäftsstrategie sein.
Die Kündigung von Mitarbeiter:innen kurz nach ihrer Einstellung kann dem Umstand geschuldet sein, dass sich Verhältnisse geändert haben. Vielleicht ist es in den Ländern, in die man expandieren wollte, zu politischen oder rechtlichen Konstellationen gekommen, die ein Engagement nun nicht mehr opportun erscheinen lassen. Dann ist es nicht nur rational, sondern die einzige Möglichkeit, sich von dem angeheuerten Personal wieder zu trennen, auch wenn es viel Geld kostet, für das man keine Gegenleistung erhält.
Korrupte Vorgänge gehören in manchen Gegenden der Welt zur Geschäftsalltag. Wer nicht mitspielt, kommt nicht ins Geschäft. In diesem Kontext ist es nur folgerichtig, wenn eine Firma den Mitarbeiter entfernt, der das gut „geschmierte Werk“ zum Stocken bringt.
Auch Abschlagszahlungen an korrupte Mitarbeiter:innen erscheinen sinnvoll, wenn man damit einen enormen Imageschaden für die Firma verhindern kann, der viel teurer wäre – auch wenn der Führungskraft, die die Vereinbarung unterschreiben muss, vor Abscheu die Feder aus der Hand zu fallen droht.
Oberstes Ziel der Institution ist ihr Weiterbestand
Das wichtigste Ziel einer Organisation ist, wie bereits erläutert, die Sicherung ihres eigenen Bestandes. Diesem Ziel wird alles untergeordnet. Geht es um das Überleben, ist jedes Mittel recht.
„Störfaktoren“ werden ausgeschaltet
Und somit ist es auch nur logisch, dass Unternehmen und Institutionen fast reflexartig dazu neigen, alles, was ihren Zielen zuwiderläuft, zu entfernen – so auch Mitarbeiter:innen, die nicht „auf Linie“ sind. Das sind nicht nur jene, die im Zentrum von Konflikten stehen, korrupt sind oder aber korrupte Geschäfte stören. Auch von Mitarbeiter:innen, die die Firmenphilosophie und die Firmenkultur nicht mittragen, wird man sich eher früher als später trennen.
Warum sind Unternehmen bestandsresistent?
Trotz so manch fragwürdiger Praxis, die uns, würden wir sie ins private Leben übernehmen, sozial und existenziell ins Out katapultieren würden, bleiben Unternehmen auf der Erfolgsspur. Viele dieser Praktiken gehören übrigens zum betriebswirtschaftlichen Mainstream-Instrumentarium.
Es liegt im Wesen von Institutionen, dass sie unabhängig von einzelnen Individuen existieren. Im Normalfall bleiben Identität und Handlungsmacht eines Unternehmens bestehen, egal, wer gerade in der Chefetage oder in den Aufsichtsgremien sitzt. Natürlich kann das Verhalten von Einzelpersonen ein Unternehmen auf eine Erfolgsstraße führen oder umgekehrt auch ins Mark erschüttern, doch im Allgemeinen sind Strukturen und Kollektiv stark genug, um auch krisenhafte Personalwechsel zu überdauern. Sehr deutlich zeigt sich dies im politischen System, das durch die regelmäßigen Wahlgänge ja geradezu auf Wechsel ausgelegt ist. Minister:innen kommen und gehen, während das Ministerium weiterbesteht und weiter arbeitet. In den USA konnte man jüngst beobachten, dass selbst ein oberster Entscheidungsträger mit einer problematischen Persönlichkeitsstruktur die staatlichen Institutionen letztlich nicht daran hindern konnte, ihre verfassungsgemäßen Aufgaben zu erfüllen.
Unternehmen und Institutionen existieren weiter, auch wenn zuweilen heftig an ihnen gerüttelt wird. Im Sinne politischer und wirtschaftlicher Stabilität ist dies auch eine äußerst beruhigende Tatsache.
Tipp der Mentorin:
Arbeitet man in Unternehmen oder Institutionen, dann befindet sich in Strukturen, die ihre eigene Bestandslogik haben. Man möge sich immer wieder mal Folgendes vor Augen halten:
Ein Unternehmen kann, insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Blüte, großzügig sein und der Belegschaft viele Annehmlichkeiten bieten. Es kann an seiner Kultur arbeiten und Respekt, Wertschätzung und Mitsprache über die gesetzlichen Verpflichtungen hinaus zu seinen Prinzipien erheben. Es kann auch – und viele Firmen tun dies hierzulande ja auch – ehrlich versuchen, etwaige sich im Geschäftsbetrieb ergebende Härten für Mitarbeiter:innen sozial abzufedern. Aber ein Unternehmen hat Interessen und keine Emotionen. Es auch weder Scham- noch Mitgefühl. Und wenn es in seiner Existenz bedroht ist, wird es – so steht es im ungeschriebenen Bestandsgesetz für Institutionen aller Art – alles tun um zu überleben und dabei keine Mittel scheuen.