In meiner Studienzeit wurde einmal übers Wochenende das Uni-Gebäude für eine Drei-Tage-und-Drei-Nächte-Party besetzt, die auch einen politischen Anspruch hatte. Der Rektor ließ Polizisten um das Gebäude patrouillieren, schritt jedoch nicht weiter ein. Keiner der Beteiligten wusste, was am Montag danach passieren würde. Es konnte für die Organisator:innen durchaus brenzlig werden, schließlich hatte man etwas Illegales getan.

„Wir dürfen die Deutungshoheit nicht der anderen Seite überlassen“, sagte der Studentenführer am späten Sonntagabend und war im nächsten Moment verschwunden. Am Montag in der Früh stand er vor der Uni und verteilte Flugblätter, in denen die Ereignisse aus Sicht der Studentenschaft dargestellt wurden, und verhinderte damit, dass sich wilde Gerüchte verbreiteten. Ich staunte. Während wir anderen uns von den Strapazen der durchfeierten Nächte erholt und tief geschlafen hatten, hatte er den Text aufgesetzt und die Flugblätter produziert. Hätte ich den Begriff „Leadership“ damals schon gekannt, hätte ich ihn diesem Studentenführer mit Überzeugung zugeordnet.

Was ist Leadership?

Leadership bezeichnet die Fähigkeit, andere Menschen, Gruppen oder Organisationen entscheidend zu beeinflussen, zu führen und in eine bestimmte Richtung zu leiten. Über diese Fähigkeit, die sich insbesondere in kritischen Situationen zeigt, verfügen nicht alle Führungskräfte. Gleichermaßen muss man keine Führungskraft sein um Leadership zu übernehmen.

Ein Beispiel für Leadership in einer Krise lieferte einer meiner ehemaligen Chefs. Er befand sich nach einer Gebäudebesichtigung mit fast einem Dutzend Menschen eng geschlichtet in einem Lift als dieser steckenblieb. Hilfe ließ auf sich warten. Wir warteten unten und waren ob der Situation höchst besorgt. Umso mehr überraschte, als die Eingeschlossenen nach einer Stunde gut gelaunt ausstiegen. „Ich habe Schmäh geführt und Witze erzählt, damit niemand in Panik gerät“, flüsterte der Chef uns zu, und nur wir, seine engsten Mitarbeiter:innen, konnten ihm ansehen, unter welcher Anspannung er selbst gestanden hatte. Er hatte in der kritischen Situation die Verantwortung übernommen und sich damit als guter Anführer erwiesen.

Zum Glück kommt es nicht jeden Tag zu solch heiklen Situationen, doch Leadership zeigt sich auch im gewöhnlichen Alltag.

Verantwortung, Weitblick, Entschlossenheit, Augenmaß – Kennzeichen von Leadership

Den Weitblick einer Führungspersönlichkeit bewies kürzlich ein Abteilungsleiter, der hinzugezogen wurde, um einen neuen Mitarbeiter auszuwählen. Als technischer Experte sollte er erkunden, ob die Kandidaten über die notwendigen Qualifikationen verfügten. Er tat jedoch nicht nur dies, sondern blickte von sich aus weiter. „Wenn wir den nehmen“, sagte er über einen der Kandidaten, „dann decken wir damit auch den künftigen Bedarf in der Abteilung XY ab.“ Er nahm Bezug auf eine anstehende Umstrukturierung und tat, ohne dafür formal verantwortlich zu sein, einen strategischen Blick in die Zukunft des Unternehmens. Damit zeigte er Leadership-Qualitäten.

Nicht nur der Blick in die Weite, sondern auch jener aus einer distanzierteren Position auf ein bestimmtes Problem zeichnet Menschen aus, die Leadership : In einem Unternehmen war eine Umfrage unter Kundinnen und Kunden durchgeführt worden war. Der Rücklauf war zufriedenstellend, die Beurteilungen auch. Kopfzerbrechen bereiteten siebzehn Briefe, die mit den Fragebögen eingelangt waren und Beschwerden von Kund:innen enthielten. Über diese Briefe wurde in einer Abteilungsleitersitzung so aufgeregt diskutiert als hinge das Wohl und Weh des gesamten Unternehmens von ihnen ab. Ein Kollege, der neu im Unternehmen war, hörte eine Weile zu, und fragte dann: „Wie viele Fragebogen haben wir ausgesandt?“ „Siebenundvierzigtausend.“ „Und wie viele Beschwerdebriefe haben wir erhalten?“ Er lächelte, während es den Anwesenden wie ein Schatten von den Augen fiel. Was waren schon siebzehn Briefe? Auf diese würde man klarerweise individuell eingehen, aber bei dem positiven Gesamtergebnis der Umfrage fielen sie kaum ins Gewicht. Durch den Hinweis war das Problem im Nu auf seine wahre Größe geschrumpft. Der neue Mitarbeiter hatte Führungsqualität bewiesen, indem er das Problem mit Augenmaß betrachtet, richtig eingeordnet, und den Tunnelblick der anderen geweitet hat.

An jeder Position kann man Leadership übernehmen

Leadership beweist ein Mitarbeiter, der es wagt, seiner Chefin während eines Konflikts eine gemeinsame Coaching-Einheit vorzuschlagen. Leadership zeigt eine Sekretärin, die nach dem plötzlichen Tod des Chefs Agenden übernimmt, für die sie nicht zuständig ist, weil sie mitdenkt, sich verantwortlich fühlt und aufgrund ihrer Stellung besser Bescheid weiß als andere. Als Leader erweist sich ein Projektmitarbeiter, der für einen Fehler, den das Team begangen hat, geradesteht, während andere sich ducken.

Aus meiner Erfahrung kann ich nur betonen, wie entlastend es für Führungskräfte ist, wenn Mitarbeiter:innen mitunter Leadership übernehmen. Ich glaube, dass ich von meinen Chefs genau dafür geschätzt worden bin, dass ich mitgedacht und immer wieder das große Ganze im Blick gehabt habe. Genauso ist es nun für mich als Führungskraft mit meinen Mitarbeiter:innen. Ich respektiere jene Mitarbeiter:innen, die bereit zur Leadership sind, am meisten. Sie stehen auf meiner geheimen Liste zukünftiger Führungskräfte.

Manchmal kann man schon unter ganz jungen Menschen das Talent zur Leadership erkennen. Eine meiner Mitschülerinnen in der Volksschule, ein kleines Mathematik-Genie, war bei der Aufnahmsprüfung ins Gymnasium rasch mit den Aufgaben fertig und langweilte sich. Da kam sie auf die Idee, die Angaben abzuschreiben um sie in die Volksschule mitzunehmen. Sie dachte an die kommenden Jahrgänge von Volksschüler:innen, die – in Zeiten, als es noch kein Internet und wenig Kommunikation zwischen Schulen gab –die Möglichkeit bekommen sollten, sich anhand konkreter Aufgaben auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Sie tat es, und tatsächlich diente ihre Mitschrift in der Volksschule noch jahrelang als Übungsunterlage. Wenig überraschend, dass diese Mitschülerin später eine glänzende Karriere als Führungskraft gemacht hat.

Der Wille und die Bereitschaft, Leadership zu übernehmen, sind wichtige Eigenschaften einer guten Führungskraft.

Was ein Mensch noch alles braucht um sich als Führungskraft zu qualifizieren, wird Thema des nächsten Beitrags sein.