Authentizität ist ein positiv besetzter Begriff, der im Berufs- wie im Privatleben hoch im Kurs steht. Auch in der Führungskräfteliteratur ist er prominent vertreten. Führungskräfte sind erfolgreich, wenn sie authentisch sind, wird behauptet.

Doch was genau ist mit „Authentizität“ gemeint?

Die Mentorin berichtet:

Im Allgemeinen wird Authentizität salopp mit In-jeder-Situation-Man-Selbst-Sein und Sicht-Nicht-Verstellen-Müssen gleichgesetzt.

Aber gilt dies auch für Führungskräfte?

Über den Sommer hat einmal die Tochter von Freunden ein Praktikum in meinem Unternehmen gemacht. In der Belegschaft wusste niemand, dass die junge Dame und ich einander privat gut kannten, und so sprach man offen mit ihr, auch über mich. Die haben nicht die geringste Ahnung, wie du wirklich bist, sagte sie eines Tages grinsend zu mir, sie sehen dich nur als Chefin.

Bedeutet dies, dass ich im Büro nicht authentisch bin?

Ist ein cholerisch veranlagter Chef, der seinen Wutanfällen in der Chefetage ungebremst freien Lauf lässt, authentisch? Oder die lebenslustige Kollegin, die die ganze Abteilung an ihren Liebesabenteuern und ihrem Liebeskummer teilhaben lässt? Oder der Servicetechniker, der in Rockerkluft vor seine Kunden tritt, weil er sich nicht selbst verleugnen oder „verkleiden“ möchte? Ist es authentisch, wenn man sich als Persönlichkeit überall auf die gleiche Weise outet, egal, ob im privaten oder beruflichen Kontext?

Oder anders gefragt: Ist der Ausdruck von Authentizität im Privat- und im Berufsleben derselbe?

Ich sage klar und deutlich: Nein.

Es geht um Authentizität in der Rolle

Im Büro bin ich nicht als Privatperson gefragt, sondern in meiner beruflichen Rolle. Es interessiert die Firma nicht wirklich, ob ich meine wahre Berufung in der Schriftstellerei, beim Schlagzeugspielen oder beim Kochen für die Familie sehe. In der Firma werde ich für das Ausfüllen der professionellen Rolle bezahlt.

Geschäftspartner:innen und Mitarbeiter:innen wollen, wenn sie mit mir beruflich zu tun haben, wissen, wer ich bin. Sie wollen eine Chefin vor sich haben, die wie eine Chefin aussieht und sich wie eine Chefin verhält. Führungskräfte, die im Anzug oder im Business-Kostüm daherkommen, sind in ihrer Rolle authentischer als solche, die Hawaii-Hemden oder einen romantischen Rüschenlook bevorzugen. Und die, die sich nüchtern-professionell zu benehmen wissen, sind als Chef:innen glaubwürdiger als jene, die ihren Gefühlen ungehemmt freien Lauf lassen.

Rollenklarheit hilft

Andere Ausschnitte meiner Persönlichkeit oder meines Verhaltensspektrums sind für meine Gegenüber im beruflichen Kontext uninteressant. Mehr noch, es verunsichert jedes Gegenüber, wenn die Führungskraft in ihrer Rolle nicht klar ist. Ambivalentes Auftreten schwächt auch die Position der Führungskraft. Es ist wichtig, den Erwartungen, die das Umfeld an Aussehen und Verhalten einer Führungskraft hat, so weit wie möglich zu entsprechen.

Authentizität hat also viel mit Rollenklarheit zu tun. Je klarer ich mich in meiner Rolle verhalte, desto einfacher ist es für meine Umgebung, mit mir zurechtzukommen. Je eher ich mich dieser Rolle entsprechend verhalte, umso authentischer werde ich wirken.

Der Ausdruck von Authentizität hängt vom Kontext ab

Der wichtigste Aspekt, der beachtet werden muss, ist also der Kontext. Authentizität drückt sich im Privaten anders aus in der beruflichen Rolle. Unsere Lebenspartner:innen oder unsere Kinder würden es uns sicher negativ ankreiden, würden wir mit ihnen ebenso „professionell“ kommunizieren wie wir es im Job tun. Unser privates Umfeld erwartet zu Recht, eine andere, nämlich die private Seite von uns zu Gesicht zu bekommen. Im Privaten sind Ehrlichkeit, Offenheit und Ich-Botschaften gefragt. Im Berufsleben hingegen bewährt sich die Konzentration auf die geschäftlichen Belange. Zu viel Offenheit im Sinne persönlicher „Authentizität“ kann nicht nur peinlich sein, sondern sich im schlimmsten Fall sogar negativ auf die Karriere auswirken – wenn etwa im harten Konkurrenzkampf private Details, die zu offen geteilt wurden, als Munition gegen die Offenherzigen verwendet werden.

Authentizität = Übereinstimmung von Persönlichkeit und Rolle

Der dritte Aspekt – und der scheint mir im Sinne einer Definition von Authentizität im engeren Sinn der wichtigste zu sein – betrifft die Frage, wie man in seiner/ihrer beruflichen Rolle authentisch sein kann.

Reicht es, bestimmte Konventionen und Erwartungen zu erfüllen, um als authentisch wahrgenommen zu werden?

Der Business-Anzug und geschliffene Umgangsformen alleine machen es sicher nicht. Ob jemand authentisch rüberkommt oder nicht, hängt vielmehr davon ab, ob seine/ihre Persönlichkeit zu Rolle und Position passen.

Fühlt sich das Business-Outfit nicht „verkleidet“ sondern ganz „normal“ und stimmig an? Fällt es leicht, vom Privaten in die berufliche Rolle zu wechseln? Ist man seiner Rolle als verantwortungsvolle Führungskraft gewachsen? Bietet man der Umwelt ein harmonisches, echtes Bild, das nichts Aufgesetztes, Unstimmiges an sich hat? Wenn man das alles bejahen kann, dann wirkt man definitiv authentisch.

Authentizität hat also, vereinfacht ausgedrückt, sehr viel damit zu tun, ob die Dinge zusammenpassen.

Authentizität ist dabei keineswegs auf Führungskräfte beschränkt. Wir alle kennen Lehrer:innen, Hausmeister:innen oder Wirt:innen, die in ihren Rollen „aufgehen“, und die in hohem Maße authentisch sind. 

Oft korreliert die Fähigkeit, authentisch aufzutreten, mit Alter und Erfahrung, insbesondere wenn es um Führung geht. Man kann jedoch in jeder Rolle und in jedem Alter authentisch sein. Ein Beispiel für eine Führungskraft, der man seine Führungsqualitäten trotz des jugendlichen Alters abnimmt, ist etwa Matthias Jaissle, der erfolgreiche Trainer des aktuellen österreichischen Fußballmeisters. Auch Persönlichkeiten wie Greta Thunberg sind in ihrer Mission in hohem Maße authentisch.

Was beschreibt eine „authentische“ Führungskraft?

Will man eine Führungskraft beschreiben, die auf ihre Umgebung authentisch wirkt, dann werden wohl Begriffe wie Gelassenheit, Selbstsicherheit, Souveränität, oder Leadership vorkommen. Eine authentische Führungskraft hat, so behaupte ich, darüber hinaus eine gute Menschenkenntnis, kann Situationen rasch erfassen und einordnen und verfügt über ein verlässliches „Bauchgefühl“. Bei ihr hat, was sie sagt und tut, Hand und Fuß und steht im Einklang sowohl mit ihrer Körpersprache als auch mit ihren Handlungen. Sie wirkt nicht angestrengt in ihrer Rolle und hat nichts Gekünsteltes an sich.

Um authentisch auftreten zu können ist es ganz wichtig, sich selbst gut zu kennen, zu sich und zu den eigenen Fähigkeiten zu stehen, aber auch über die eigenen Schwachstellen Bescheid wissen und Fehler auch mal zuzugeben.

Authentizität im öffentlichen Auftritt

Authentizität wird oft im Zusammenhang mit öffentlichem Auftreten thematisiert. Da geht es um die rhetorische Ausdrucksweise, um die Aufmachung, um Gesten, um Mimik. Sind sie stimmig und kommen sie als Teil der Persönlichkeit rüber? Oder sind sie angelernt und wirken „aufgesetzt“? Wir alle kennen Politiker:innen, deren staatstragende Gestik ebenso unecht wirkt wie die antrainierten Floskeln, mit denen sie punkten wollen, oder Vortragende, die mit der Hochsprache ihre Mühe haben und sich dennoch krampfhaft bemühen, ihre lokale Dialektfärbung hinter sich zu lassen. Oder solche, denen man es ansieht, dass die Aufmachung, in der sie auf der Bühne stehen, ungewohnt ist und nicht zu ihnen passt. Auftritte dieser Art überzeugen das Publikum nicht.

Nicht jede/r ist die/der geborene Vortragende, und dennoch kann man, selbst wenn der öffentliche Auftritt nicht zum Alltagsgeschäft gehört, auch auf der Bühne authentisch bleiben. Ich habe einmal erlebt, wie sich bei einer Veranstaltung in Wien eine Frau mittleren Alters, ihrem Dialekt nach aus einem weiter entfernten Bundesland, zu Wort meldete und sagte, dass sie jetzt sehr aufgeregt sei, weil sie nicht alle Tage vor einem großen Publikum spräche. Danach legte sie mit dialektgefärbter Sprache ihre Argumente dar und hätte es besser nicht machen können.

Kann man Authentizität lernen?

Nur bedingt, behaupte ich.

Man kann sich hinsichtlich von Attributen, die zur Rolle gehören und zu einem stimmigen Gesamtauftritt beitragen, beraten lassen. So etwa zum Kleidungsstil, wenn man etwa vom studentischen Outfit in eine professionelle Rolle wechselt. Man kann sich in einschlägigen Seminaren seiner eigenen Ausdrucksweise und seiner Körpersprache bewusstwerden, kann die Symbolik von Gesten erlernen und sie auch mal gezielt einsetzen. Man kann sich für verschiedene Situationen des Geschäftslebens bestimmte Floskeln zu Eigen machen, die einem über die Runden helfen, und man kann sich in Rhetorik üben. Das alles ist äußerst nützlich, wird aber nicht automatisch zu Authentizität verhelfen.

Ich denke, dass der einzige Weg zu Authentizität über die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit führt. Je mehr Raum man der Reflexion der täglichen Erfahrungen gibt, je besser man sich selbst kennenlernt, desto leichter wird es fallen, die Persönlichkeit so weit in die berufliche Rolle einfließen zu lassen, dass schließlich alles zusammenpasst, und man als Person ein Bild von Stimmigkeit und Souveränität vermittelt. Hilfreich dabei sind gute Berater:innen und wohlwollende Mentor:innen, die einen im beruflichen Alltagsgeschehen begleiten und dazu beitragen, dass der Boden, den man unter den Füßen hat, von Tag zu Tag fester wird.

Tipp der Mentorin:

Man suche sich den „richtigen“ Job, verhalte sich beim beruflichen Aufstieg jeweils der Rolle und der Position entsprechend, und investiere in Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung. Befindet man sich im Einklang mit sich und seinem beruflichen Wirken, und ist man als Mensch gefestigt, dann kommt die authentische Ausstrahlung von selber.