Der Zug, den ich nehmen wollte, ist ausgefallen, der nächste ist bummvoll, und der übernächste, in den ich nun eingestiegen bin, bleibt über eine Stunde im Bahnhof stehen bevor er endlich abfährt. Zuvor gab es laute Dispute zwischen Fahrgästen, da jene, die für den ersten Zug reserviert hatten, nun Anspruch auf die reservierten Plätze erhoben, die aber, weil es sich nun um einen anderen Zug handelte, von anderen Menschen reserviert worden waren. „Wenden Sie sich ans Zugpersonal“, höre ich als Ansage, und bedaure die Schaffnerin, die den Unmut der Passiere voll abbekommt.

„Nur so aus Neugier“, sage ich zu ihr, als sie mein Ticket kontrolliert, „wie kommt dieses Chaos zustande? Ich fahre seit Jahrzehnten mit der Bahn und kannte solche Zustände bisher nicht.“ Sie meint, die Nachfrage sei durch das günstige Ticket, das die Politik eingeführt hat, so stark gestiegen, dass die Kapazitäten der Bahn nicht Schritt halten können. „Wir müssen auf uralte Garnituren zurückgreifen“, sagt er, „und die sind störungsanfällig.“

Ich habe auch ein solches günstiges Ticket und bin froh darüber. Während ich noch nachdenke, wer wohl Schuld an den Problemen hat, die Politik oder die Bahn, und darüber sinniere, dass immer jene, die an der vordersten Front stehen – in diesem Fall das Zugspersonal – die entstandene Misere ausbaden müssen, denke ich an die zahllosen Situationen in meiner und in anderen Firmen, wo dies ziemlich ähnlich läuft: Die oberste Ebene ordnet etwas an ohne zu fragen, ob die Umsetzung gewährleistet werden kann, und die Ausführenden müssen dann mit suboptimalen Zuständen zurechtkommen und sich dem Ärger der Kundschaft stellen.

(Dabei ist es den einzelnen Entscheidungsträger:innen nicht einmal wirklich anzulasten, dass sie so handeln, überlege ich weiter, denn oft ist es systemimmanent. Sowohl viele Geschäftsführerverträge als auch politische Legislaturperioden sind kurz befristet. Will man in dieser Zeit Akzente setzen, muss man wohl zuweilen mit der Brechstange arbeiten.)

Kann man es besser machen? Eine kleine Fallstudie

Ich habe als Geschäftsführerin keinen vertraglichen Zeitdruck und will Entscheidung und Umsetzung zusammen denken, als mir der Leiter des Kundenbetreuungscenters seinen Plan erläutert:

Das Kundenbetreuungscenter soll zu einem One-Stop-Shop werden, jeder Geschäftsfall soll in Zukunft von Anfang bis zum Ende von einem/einer einzigen Zuständigen bearbeitet werden. Die derzeit bestehende Arbeitsteilung soll durch sogenanntes Case Management ersetzt werden, in dem der Kunde/die Kundin im Zentrum des Geschehens steht. Die Kundschaft bekommt es auf Seiten der Firma nur noch mit einem Gegenüber zu tun.

Ich denke an die wiederkehrenden Beschwerden von Kund:innen, die am Telefon hin- und her verbunden werden und ihr Anliegen zwei-, dreimal schildern müssen, bevor sie endlich zu jemandem gelangen, der ihnen weiterhelfen kann, und an die nicht so seltenen Fälle, in denen die Problembearbeitung stockt, nur weil gerade ein/e Mitarbeiter:in auf Urlaub oder im Krankenstand ist, und niemand ihn/sie vertreten kann. Das war mir immer schon ein Dorn im Auge.

Ich halte den Plan des Abteilungsleiters daher für eine ausgezeichnete Idee und gebe grünes Licht für die Umsetzung. Es liegt auf der Hand, was dies für die Mitarbeiter:innen bedeutet: Sie müssen nun alle anfallenden Tätigkeiten beherrschen und nicht wie bisher nur arbeitsteilig einen kleinen Ausschnitt.

Ebenso klar ist, dass man die neuen Verhältnisse nicht mit Fingerschnippen herbeiführen kann. Es ist nicht damit getan, Köpfe und Aufgaben einfach am Reißbrett zu verschieben und neu zu verteilen. Die Umstrukturierung soll reibungslos verlaufen, und soll weder die Kund:innen noch die Mitarbeiter:innen allzu sehr belasten oder gar den Betrieb lahmlegen. Die Abteilung darf während der Umstellungsphase nicht ins Chaos geraten.

„Wie schätzen Sie die Reaktionen der Mitarbeiter:innen ein?“ frage ich den Abteilungsleiter und könnte seine Antwort selbst vorwegnehmen. Es wird einige geben, die sich vielleicht schon länger gedacht haben, dass man die Abläufe in eine solche Richtung ändern sollte, und sich nun freuen, dass es geschieht, und ein paar, die zwar seufzen werden, jedoch bereit sind, sich auf den Veränderungsprozess einzulassen. Einige wenige werden sich sträuben.

Wir organisieren eine Abteilungsversammlung und versuchen, den Mitarbeiter:innen die Vorteile der angepeilten neuen Struktur zu erklären. Wir lassen Raum für Einwände seitens der Mitarbeiter:innen und trennen jene, die allgemeine Angst vor Veränderung ausdrücken, von den anderen, die auf sachliche Notwendigkeiten hinweisen. Beide Arten von Einwänden sollen Berücksichtigung finden, die einen auf der emotionalen, die anderen auf der sachlichen Ebene.

Von den Mitarbeiter:innen werden Raumaufteilung und Sitzordnung in der Abteilung ins Treffen geführt, die wohl zu verändern sein werden, sowie etwaige neue Öffnungszeiten und deren Auswirkungen auf die individuellen Arbeitszeiten, und vor allem der Schulungsbedarf von Mitarbeiter:innen, die bisher Spezialist:innen waren, und nun zu „Generalist:innen“ werden sollen. Wir lassen in der Besprechung alle zu Wort kommen und ermutigen auch jene, die sich im Hintergrund halten, dazu, sich zu äußern. Dann versprechen wir, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, stellen fachmännische Unterstützung durch ein externes Beraterteam in Aussicht, und versichern, dass genügend Zeit eingeräumt werden wird, um die Änderungen mit Sorgfalt zu implementieren. Am Ende der Versammlung bleiben zwar immer noch ein paar skeptische Stimmen, aber insgesamt stimmt die Belegschaft zu, den Umstrukturierungsplan in Angriff zu nehmen.

Umstrukturierungen einfach „von oben“ anordnen?

Theoretisch hätte ich natürlich auch anders vorgehen können. Die Idee des Abteilungsleiters aufgreifend, hätte ich die Umstrukturierung einfach anordnen und verlangen können, dass sie in Kraft gesetzt werde. In der nächsten Aufsichtsratssitzung hätte ich von dem erfolgreichen „Eingriff in verkrustete Strukturen“ berichtet und dafür Applaus geerntet. Von der Überforderung bis hin zur Verzweiflung von Mitarbeiter:innen und des Abteilungsleiters, der sich darüber hinaus noch mit unzufriedenen Kund:innen hätte herumschlagen müssen, hätten weder ich noch der Aufsichtsrat viel mitbekommen – und wenn doch, hätte ich dem Abteilungsleiter die Verantwortung für das Chaos zuschreiben können.

Ein Schelm, wer denkt, dass es Vorgesetzte gibt, die so agieren? Nun, ich überlasse es der Phantasie oder der Erfahrung der Leserschaft, dies zu beurteilen.

Umstrukturierungen: Für viele Mitarbeiter:innen ein Wort des Schreckens

Es ist kein Wunder, dass den meisten Mitarbeiter:innen in den meisten Institutionen und Unternehmen die Haare zu Berge stehen, wenn sie den Ausdruck „Umstrukturierungen“ nur hören. Viele von ihnen haben mit solchen Maßnahmen schlechte Erfahrungen gemacht – eben weil sie nicht als Handelnde daran teilnehmen konnten, sondern weil wie Objekte herumgeschoben und mit neuen Aufgaben betraut wurden, auf die sie niemand vorbereitet hat.

Wenn Mitarbeiter:innen unsinnige Entscheidungen ausbaden müssen

Keine Führungskraft kann sich um jeden Teilaspekt der Arbeitsabläufe im Unternehmen kümmern, sie ist dafür auch nicht da. Führungskräfte tun aber gut daran, sich des Erfahrungswissens, das im Unternehmen vorhanden ist, zu bedienen. Das gilt insbesondere für junge Menschen, die frisch aus der Ausbildung kommen, und glauben, sich „durchschlagskräftig“ profilieren zu müssen, denn leider hält nicht alles, was sich in der Theorie logisch anhört, auch der Praxis stand.

Der fachliche Informationsaustausch mit erfahrenen Mitarbeiter:innen kann auf jeder Ebene praktiziert werden. Anordnungen von oben, die auf geringer Umsetzungskenntnis beruhen, schaffen nicht nur Reibungsverluste, sondern auch jede Menge emotionale Frustration. Mitarbeiter:innen fühlen sich missachtet, zuweilen sogar schikaniert und ärgern sich zu Recht über „die da oben“, die doch „keine Ahnung vom wirklichen Geschäft“ haben. Dass eine solche Situation nicht gerade förderlich für Motivation und Betriebsklima ist, versteht sich von selbst. Realitätsferne Befehle von oben bringen immer auch die Gefahr des Scheiterns des ganzen Projekts in sich.

Sind Mitarbeiter:innen mit widersinnigen Vorschriften konfrontiert, gegen die sie sich nicht sachlich wehren können, dann bleibt ihnen oft nichts anderes übrig als die unsinnigen Vorgaben so lange zurechtbiegen, bis sie wieder in die Praxis passen. Dies ist zweifellos eine ineffiziente und für alle Beteiligten unwürdige Art der Problemlösung. 

Die Belegschaft mit ins Boot holen

Bindet man hingegen die internen Expert:innen bereits im Vorfeld eines Projekts mit ein – und das gilt umso mehr, je eher das Projekt eine Veränderung der Strukturen und Abläufe im Betrieb darstellt –, bekommt man nicht nur die besseren Lösungen, sondern hat auch diejenigen, die das Projekt dann ausführen sollen, gleich mit im Boot.

Präsentiert man der Belegschaft ein neues Vorhaben, wird sich die Technikerin in Gedanken sogleich auf die Ausführungsebene begeben, das Projekt auf Praktikabilität prüfen, entsprechende Maßnahmen vorschlagen und deren Durchführung später überwachen. Der Jurist wird rechtzeitig auf etwaige juristische Notwendigkeiten bzw. Fallstricke hinweisen. Die Steuerberaterin wird das Vorhaben in vorteilhafte wirtschaftliche Bahnen weisen, und der erfahrene Sachbearbeiter wird sich nicht nur an die richtige Behörde wenden, sondern eine langjährige gute Gesprächsbasis mit dem Beamten haben, der die vielleicht entscheidenden bürokratischen Ratschläge erteilt. Die Letztentscheidung muss natürlich in jedem Fall von der Führungskraft getroffen werden, aber die Einbeziehung der eigenen Expert:innen stellt sicher, dass dieselbe auf einer robusten Basis fußt.

Ein Vorgehen, das die Beteiligten von Beginn an miteinbezieht, ist meist zeitintensiv und oft ein wenig mühsam. Es ist aber nachhaltig, weil es eben nicht nur um das Treffen einer Entscheidung geht, sondern auch um die Sicherstellung, dass die Folgen dieser Entscheidung auch auf längere Frist hin positiv sind.