Von Kindheit an haben wir humanistische Werte kennen und schätzen gelernt. Wir sollen immer die Wahrheit sagen und nicht lügen, wir sollen freundlich zu unseren Mitmenschen sein und solidarisch mit unseren Kolleg:innen, wir sollen uns nicht selbst loben, weil Eigenlob stinkt, wir sollen stets selbstkritisch und bescheiden bleiben und uns nicht vordrängen. Auf keinen Fall sollen wir jemanden um unseres eigenen Vorteils willen beschwindeln oder gar hintergehen. Auch in den Managementseminaren hören wir viel Salbungsvolles über faires Verhalten im Geschäftsleben. Kommunikation und Offenheit, Klarheit und Transparenz, Ehrlichkeit und Handschlagqualität seien die wesentlichen Tugenden, so heißt es, und die meisten von uns wollen es gerne glauben.

Sind zu viel “Werte” hinderlich für die Karriere?

Den Kanon kennen wir alle, und wenn wir uns an ihn halten, kommen wir wahrscheinlich in den Himmel. Aber kommen wir damit auch noch woanders hin? Zum Beispiel auf den Karrieregipfel?

Nach mehr als vierzig Berufsjahren habe ich da so meine Zweifel.

Man muss gar nicht in einer exponierten Branche wie etwa der Politik tätig sein, wo es bekanntermaßen gelegentlich besonders unfein zugeht, um im Laufe des Berufslebens mit Verhalten konfrontiert zu werden, das all dem, was wir gelernt haben, aufs Äußerste, manchmal aufs Schäbigste zuwider läuft. Es sind auch in anderen Bereichen alltägliche Erlebnisse, die dazu angetan sind, den Glauben an das Gute im Menschen ins Wanken zu bringen.

Edle Führungskräfte – Rühmliche Ausnahmen

Ich kenne zwei, drei erfolgreiche Karriereverläufe, bei denen, soweit ich es beobachten konnte, niemals der Anstand verletzt worden ist. Die betreffenden Protagonisten haben zwar immer zielorientiert, karrierebewusst und strategisch sehr geschickt agiert, konnten es aber vermieden, Killertaktiken anzuwenden, und haben keine “Leichen” am Rande ihres Weges hinterlassen. Sie setzten auf ihr Charisma und Überzeugungsarbeit, schufen sich Netzwerke und banden andere zum gegenseitigen Vorteil in ihre Projekte ein. Es waren dies gescheite, gut ausgebildete, eloquente und in ihrer Persönlichkeit gereifte Menschen, und sie schafften auf eine anständige Weise eine glänzende Karriere.

Eine Portion Skrupellosigkeit schadet der Karriere nicht – im Gegenteil

Sie waren jedoch die Ausnahmen. Die meisten Menschen sind auf ihrem Weg nach oben nicht so selbstbewusst und souverän, müssen andere Mittel anwenden, und sind dabei wenig zimperlich. Wenn sie meinen, dass es die Situation erfordert, greifen sie ohne große Scheu zu unlauteren Mitteln. Sie interpretieren Fakten zu ihren eigenen Gunsten, setzen Ellbogen ein, rempeln, hintergehen, ernten ohne Skrupel die Lorbeeren anderer. Sie gaukeln Zusammenarbeit vor, nutzen ihre Kolleg:innen für eigene Karrierezwecke aus und lassen sie fallen, sobald es opportun scheint. Sie legen faule Eier, stellen Fallen und leugnen ihre Beteiligung oder schieben die Schuld auf andere, wenn etwas schief geht. Und so weiter. Nach einigen Jahren Berufserfahrung könnte wohl jede/r von uns mit Beispielen dieser Art ein paar Bücher füllen.

Das Interessante und überaus Verstörende ist, dass solche Verhaltensweisen dem Erfolg in keiner Weise abträglich sind. Im Gegenteil.

Faszinierend ist in diesem Zusammenhang das Selbsttäuschungspotenziel vieler Menschen, die nach humanistischen Werten erzogen wurden und gute Menschen sein möchten, sich dennoch schäbig verhalten, dies aber erfolgreich verdrängen und auf alle möglichen Arten wegrationalisieren. Nur einige wenige sind geborene “Machiavellis”, die offen zu ihrem skrupellosen Verhalten stehen und sogar stolz darauf sind.

Machttechniken (verstehen) lernen

Je höher es nach oben geht, umso brutaler wird der Konkurrenzkampf. Wer an die Macht gelangen und an seiner/ihrer Spitzenposition verbleiben will, sollte sich, sofern es einem nicht in den Genen liegt, in Sachen Machtmechanismen und Machttechnik ein wenig schulen lassen, damit man wenigstens erfährt, womit man zu rechnen hat – auch wenn man selber nicht vorhat, sich solcher Mittel zu bedienen.

Wer feinfühlig ist, keine dicke Haut und wenig Lust auf ständige Machtkämpfe hat, wird an der Spitze ziemlich leiden und wahrscheinlich in der zweiten oder dritten Ebene besser aufgehoben sein. Dies mag einer der Gründe sein, dass man in höheren Führungsebenen wenige Frauen vorfindet. Obwohl Frauen, wenn sie an die Macht wollen, genauso skrupellos sein können wie Männer, scheuen dennoch viele von ihnen schon im Vorfeld davor zurück, weil sie Konkurrenz- und Machtkämpfe nicht gelernt haben. Ich kenne überdies auch Männer, die ihre Führungspositionen zurückgelegt haben, weil sie sich der Brutalität des Konkurrenzkampfes nicht länger aussetzen wollten.

„Ich will mir noch in den Spiegel schauen können“, hört man Leute oft sagen, die vor der Entscheidung stehen, im Sinne ihrer Karriere etwas Skrupelloses zu tun, das mit ihren anerzogenen Werthaltungen nicht vereinbar ist. Und dann tun sie es doch, so wie die junge Heldin aus dem Film „Der Teufel trägt Prada“, die sich zuerst weigert, ihre Kollegin auszubooten, wie von der Chefin verlangt, und es dann doch macht, weil die „Umstände“ es erfordern.

Will man in eine Machtposition gelangen, sind allzu große Noblesse und Zurückhaltung sicherlich fehl am Platz, und wenn man dort angelangt ist, wo man hingewollt hat, muss man mitunter nicht nur die unangenehmen Begleitgeräusche des Neides und der Missgunst der anderen überhören, sondern auch jene des eigenen Gewissens.

Im Berufsleben ist es wie bei einem Menschenstau am Eingang eines Stadions oder einer Konzerthalle: Einige benutzen ihre Ellbogen, drängen sich vor und besetzen die besten Plätze. Andere lassen allen den Vortritt, werden stets abgedrängt und landen immer ganz hinten. Und am besten ist es, niemanden aus dem Weg zu räumen, sich aber auch nicht abdrängen lassen, sondern standhaft zu bleiben und zusehen, dass man einen guten Platz in der Menge ergattert, den man dann auch behaupten kann.